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Jüdische Jugendliche in Köln - Jachad, Jugend und Judentum
Svenja Kretschmer · 18.10.2021
zurück zur ÜbersichtDie Kölner Synagoge im Stadtteil Neustadt-Süd an der Roonstraße.© pixs:sell/Adobe Stock
Meine erste Anlaufstation, um mit der jüdischen Jugend in Köln in Berührung zu kommen, ist das Jugendzentrum „Jachad”, was hebräisch ist und so viel bedeutet wie „gemeinsam”. Jede Woche kommen hier jüdische Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 18 Jahren zusammen. Viele sind über die Zeit Freunde geworden und verbringen hier gemeinsam ihre Freizeit. Man singt gemeinsam jüdische Lieder, isst zusammen und es gibt eine Menge Programm. Je nach Lust und Alter haben die so genannten Madrichim – die Gruppenleiter: innen – abwechslungsreiche Angebote vorbereitet: Es wird gebastelt, es gibt Sportspiele und Hausaufgabennachhilfe. Den Madrichim ist es dabei wichtig, ein unterhaltsames Freizeitprogramm zu bieten, das Spaß macht und gleichzeitig auch ein Bewusstsein für jüdische Kultur und Tradition weckt. So gibt es in der ältesten Gruppe beispielsweise auch Diskussionsrunden zu ethischen und politischen Fragen oder etwa Themen wie weibliche Vorbilder für Feminismus im Judentum.
Einer der jüdischen Teilnehmer ist Michael Oliel. Michael ist 16 und seit er 6 Jahre alt ist, kommt er fast jeden Sonntag ins Jugendzentrum in der Roonstraße. Und was mich natürlich am meisten freut: Michael ist bereit für ein Interview. Mit ihm konnte ich darüber reden, was es bedeutet, als Jude in Köln zu leben, oder welche Bedeutung die Religion und das Land Israel für ihn haben. Über Feiertage, Antisemitismus, seine Familie und – vielleicht das Wichtigste – über riesige Festessen.
Judentum als Identität und Herkunft
Eine Jugendgruppe des Kölner Jugendzentrums Jachad. © Jugendzentrum Jachad
Michaels Großeltern väterlicherseits kommen aus Marokko und Belgien, mütterlicherseits aus Russland. Sein Vater wurde in Deutschland geboren, seine Mutter wiederum ist in Israel aufgewachsen, wo die beiden schließlich von seiner Tante verkuppelt wurden. „Ein großes Mischmasch”, wie Michael sagt. Über seine Familie kam Michael auch zum Jugendzentrum. Seine Cousins, sein Vater und seine Tante waren in ihrer Jugend selbst Teilnehmer:innen und Leiter in den Machanot, den jüdischen Sommercamps, und so war es seinem Vater wichtig, dass auch Michael dort mitfährt. Ein Glück für Michael, denn er geht gern dorthin und hat viele Freunde über das Jugendzentrum gefunden.
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Jeden Freitag sitzt die ganze Familie – manchmal sind es über zwanzig Verwandte – zusammen und wird von den Großeltern mit Spezialitäten sämtlicher Herkunftsländer bekocht: marokkanisch, belgisch, israelisch und mindestens vier verschiedene Kuchen – ein großes Mischmasch eben. Als streng religiös würde Michael seine Familie dabei nicht bezeichnen. „Wir sind eher traditionell als religiös”, erzählt er mir. Zwar feiern sie bei diesem Festessen wöchentlich zusammen den Schabbat, den jüdischen Ruhetag, der am Freitagabend beginnt und bis zum Sonnenuntergang am Samstag dauert, aber trotzdem ruhen sie nicht ausschließlich, sondern hören auch Musik oder haben das Handy dabei.
Dieser Umgang mit den jüdischen Feiertagen ist in gewisser Weise auch Michaels Leitfaden geworden: Jude zu sein bedeutet für ihn Identität und Herkunft und nicht so sehr Religion. Die jüdische Tradition ist ihm dabei wichtig, aber er reflektiert, welche Bedeutung sie für ihn hat, und setzt sie auf seine eigene Weise um.
„Die Tefillin, das lebe ich”, erklärt er mir beispielsweise. Die „Tefillin”, das sind Gebetskapseln, die beim Morgengebet vor allem von jüdischen Männern mit Lederriemen um Arm, Hand und Finger gewickelt und um die Stirn gelegt werden. Michael hat viel recherchiert, über die Techniken beim Binden und die verschiedenen Strömungen aus Marokko, Russland oder Israel. Schließlich hat er sich dafür entschieden, sich an der sephardischen Bindeweise zu orientieren, jenem Teil seiner kulturellen Wurzeln, den er am interessantesten findet. Allerdings wickelt er das Band auch um den Mittelfinger und legt damit die Form des hebräischen Buchstaben „Schin”, was sonst niemand so tut. „Ich mache so 50:50, mein Ding und sephardisch”, sagt er. Für ihn sei es eine Meditation, die er an schulfreien Tagen auf seine ganz eigene Art und Weise mache. Eine Tradition, die über zweitausend Jahre zurückreiche und ihn mit anderen Juden verbinde. „Ich fühle dabei, dass ich das tue, was meine Vorfahren vor mir getan haben. Das ist so eine Sache, die man von Generation zu Generation weitergibt, und ich liebe es, das zu machen.”
Mich interessiert, welche jüdischen Feiertage Michael zelebriert. Er erklärt, dass er nur die großen zwei Festtage in der Synagoge feiert: das Fastenfest Jom Kippur und Rosh Hashanah, das jüdische Neujahr. Alle anderen Feste feiert er bei seinen Großeltern, natürlich – wie sollte es anders sein – bei einem riesigen Festessen. Jom Kippur ist Michaels Lieblingsfest. „Eigentlich ist es ein bisschen langweilig”, erzählt er, „aber auch schön. Ich sehe meine Familie und meine jüdischen Freunde, die in Köln leben. Es ist eine starke Verbundenheit, die ich da immer fühle.” Nach etwa 24-stündigem Fasten und dem Besuch in der Synagoge lädt er dann auch immer seine beste Freundin und ihre Familie zu einem besonders großen Essen bei seinen Großeltern ein.
Mobbing und Antisemitismus
Kreative Angebote im Jugendzentrum Jachad. © Jugendzentrum Jachad
Um den Hals trägt Michael für gewöhnlich eine Kette mit dem Davidstern, dem Symbol des Volkes Israel. „Wenn ich die Kette anhabe, würde ich sie aber zum Beispiel im Bus nicht bewusst draußen haben, weil ich schlechte Erfahrungen gemacht habe”, sagt er. In der Schule und bei seinen Freunden habe er keine Angst davor, sie offen zu zeigen. Aber er möchte sie auch nicht präsentieren, ihm sei nicht wichtig, „dass die Leute wissen, dass ich Jude bin.” Ich frage Michael, welche Erfahrungen er gemacht hat, und er erzählt mir, dass er in seiner alten Schule gemobbt wurde. Manche Mitschüler:innen haben Kreise um ihn gebildet und blöde Witze über Konzentrationslager gemacht „und dass ich Jude bin, Gaskammern und in den Ofen stecken – halt so ein Zeug.” Gewehrt habe er sich damals nicht, um nicht von der Schule zu fliegen. „Ich weiß nicht mehr wie, aber damals habe ich es geschafft, mich zurückzuhalten und Ruhe zu bewahren.” Im Nachhinein habe ihn diese Erfahrung am meisten getroffen. Ähnliche Erlebnisse hat er in der Bahn gemacht. Wenn er dort ein schwarzes Shirt anhatte, konnte man den Davidstern auf seiner Brust besonders gut erkennen.
Ich finde es erschreckend, was Michael alles aufgrund seines Jüdischseins erlebt hat, und staune im Gespräch über die Art, wie er damit umgeht. Ich sage ihm, dass ich es ganz schön mutig finde, dass er die Kette trotzdem noch trägt. Antisemitismus gebe es seit über 2.000 Jahren, bedauert Michael, und er sehe auch kein nahes Ende. Er findet, dass man in Deutschland mehr darauf achten müsse zu wissen, was antisemitisch ist und was nicht. „Ich meine mehr darauf Acht geben, was man sagt, bevor man seine Meinung herausposaunt. Mal wirklich selbst ein Stück nachdenken.”
Verbundenheit zu Israel
Bei unserem Interview im Frühjahr trug Michael den Davidstern nicht um den Hals. Aber nur, weil seine Kette kaputtgegangen ist. Und im Internet wollte er sich keine neue kaufen. Das fühle sich nicht „echt” an. Für einen neuen Davidstern hat er lieber seinen Israel-Besuch in den Sommerferien abgewartet, um dort auf dem Basar zu stöbern. In Israel war er „schon tausend Mal”. Mit der Familie fährt er oft in eine Wohnung in Tel Aviv. Jüdisch zu sein bedeutet für ihn auch eine große Verbundenheit zum Land Israel. Jerusalem sei seine „Lieblingsstadt auf der ganzen Welt”. Trotzdem sei er in Köln geboren und aufgewachsen und fühle sich hier zu Hause.
In diesem Jahr wird Michael nun selbst Gruppenleiter – Madrichim im Jugendzentrum Jachad. „Das ist seit einigen Jahren mein Traum”, erzählt er, denn er habe schon als kleiner Junge zu den Madrichim hinaufgesehen. Die erforderlichen Seminare haben bereits begonnen.
Das erste Treffen war glücklicherweise exakt an seinem 16. Geburtstag, denn erst ab dann durfte er auch wirklich daran teilnehmen. Dort lernt er den Umgang mit Kindern, wie er ein gutes Programm zusammenstellt, vor den Kindern spricht und Interesse für die jüdische Tradition und Kultur weckt. Bald kann Michael dann als Leiter mit in die Sommercamps fahren und im Jugendzentrum seine eigene Gruppe übernehmen, wie schon sein Vater, Onkel und seine Tante es getan haben. Ganz traditionell – aber eben doch auf seine ganz eigene Weise.
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