Rund ums Baby
Late Talker: Wenn Kinder spät sprechen
Anja Janßen · 22.02.2022
zurück zur ÜbersichtSprechen mit zwei Jahren weniger als 50 Wörter: Late Talker © rigg/Adobe Stock
Ob „Mama“, „Papa“, „Auto“, „Ball“ oder „Licht“: Spricht der Nachwuchs sein erstes Wort, ist das für die meisten Eltern eine Sensation. Viele Kinder beginnen um den ersten Geburtstag herum mit der Äußerung erster Wörter – anfangs nur vereinzelt, einige Zeit später steigt der Wortschatz rapide an. Das ist jedoch nicht bei allen der Fall. Es gibt Kinder, die sich Zeit lassen mit dem Sprechen. Doch was ist „normal“ und wann sollten Eltern das Thema beim Kinderarzt ansprechen?
Die Regel mit den 50 Wörtern
Grundsätzlich gilt: Kinder, die im Alter von 24 Monaten weniger als 50 Wörter sprechen und keine Wortkombinationen bilden, zugleich aber in anderen Entwicklungsbereichen völlig unauffällig sind, gelten als Late Talker. „Das ist keine Störung, sondern zunächst einmal eine verzögerte Sprachentwicklung“, erklärt Hannah Hensen vom Deutschen Bundesverband für Logopädie e. V. Die ausgebildete Logopädin mit abgeschlossenem Bachelor- und Masterstudium hat sich sowohl im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit als auch in ihrer praktischen Arbeit viel mit dem Thema befasst. Sie weiß: Rund 10 bis 20 Prozent der Zweijährigen in Deutschland sind Late Talker und sprechen wenig bis keine Wörter. Ein Drittel dieser Kinder holt die Verzögerungen bis zum dritten Geburtstag auf. Ein weiteres Drittel entwickelt bis dahin leichte sprachliche Auffälligkeiten, der dritte Anteil hat später eine Sprachentwicklungsstörung.
Studien zeigen, dass das Sprachverständnis eine große Rolle spielt. Verstehen Kinder Sprache nicht altersgemäß, steigt die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer Sprachentwicklungsstörung.
Früherkennung ist wichtig
Hensen spricht sich klar dafür aus, dass Late Talker in einer logopädischen Praxis vorgestellt werden. „Dadurch, dass sich nur ein Drittel der Kinder normal entwickelt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein Late Talker später sprachliche Auffälligkeiten oder Störungen zeigt“, erklärt die Logopädin. Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung haben eingeschränkte Bildungschancen. Sie zeigen häufiger Schwierigkeiten beim Lesen sowie Schreiben und öfter Lern- oder Verhaltensauffälligkeiten.
Eine Einschätzung des Sprachentwicklungsstandes findet von kinderärztlicher Seite im Rahmen der U7 statt. Hier können Eltern auf einem Fragebogen ankreuzen, welche Wörter und Wortkombinationen ihr Kind spricht. Stellen Ärzt:innen dabei und während der Untersuchung Auffälligkeiten fest, verordnen sie Logopädie. Diese Kassenleistung gibt es nur auf Rezept.
Die Therapie: spielerisch und passgenau
Doch wie sieht die logopädische Behandlung von Late Talkern eigentlich aus? Logopädische Praxen wirken auf Kinder in der Regel wie ein spannender Ort mit zahlreichen Spielmöglichkeiten. Denn die Behandlungsräume für Kinder sind gefüllt mit attraktivem Spielmaterial, das die kleinen Besucher: innen magnetisch anzieht. Im Elterngespräch erfragen Logopäd:innen die Vorgeschichte. Im Spiel mit dem Kind beobachten sie dann, ob es Blickkontakt hält und sich für Kommunikation und Sprache interessiert.
Setzt an verschiedenen Ursachen an: die logopädische Behandlung. © cicisbeo/Adobe Stock
Für die eigentliche Behandlung gibt es drei Möglichkeiten: Ein Elterntraining ist angesagt, wenn Mütter und Väter nicht das Sprachvorbild sind, das ein Kind benötigt. Doch auch eine andere Ursache ist möglich: Das Kind hat noch nicht den Symbolcharakter von Sprache erkannt. Wörter sind Symbole und ihr Gebrauch erfordert die Fähigkeit zur Abstraktion. Diese Kompetenz entwickeln Kinder im Symbolspiel, wenn sie beispielsweise so tun, als ob sie eine Puppe füttern. Zeigt ein zweijähriges Kind diese Fähigkeit noch nicht, setzen Logopäd:innen zunächst hier an.
Sind Eltern ein angemessenes Sprachvorbild und das Symbolspiel ist bereits entwickelt, findet eine sprachspezifische Therapie statt. Pro Therapiestunde bieten Logopäd:innen dann ein Wort besonders häufig in verschiedenen Kontexten und Satzstrukturen an. Am Ende der Stunde überprüfen die Therapeut:innen, ob das Kind das Wort versteht – eine Grundvoraussetzung, um den Begriff später selbst zu produzieren. Das braucht Zeit. Erst fünf bis sechs Wochen, nachdem ein zweijähriges Kind ein neues Wort verstanden hat, setzt es das Wort auch von selbst ein. Eltern oder Großeltern, die Kinder dazu anhalten, neue Wörter direkt nachzusprechen, erzeugen somit keinen Lerneffekt.
Sprache anbieten – aber im gesunden Mittelmaß
„Die neuen Wörter aus der Therapie sollten Eltern häufig zu Hause einbringen“, empfiehlt Hensen. Ein gesunder Mittelweg ist dabei das A und O. Das heißt: nicht ständig auf das Kind einreden oder mit Input überhäufen. Ruhephasen sind wichtig für das Gehirn, damit es das Gelernte verarbeiten kann. Ist der Nachwuchs in eine Beschäftigung vertieft, müssen Eltern die Situation nicht immer sprachlich begleiten. Ansonsten sollten Mütter und Väter alltägliche Routinen versprachlichen. Mahlzeiten, Zähneputzen, das Zubettgehen – es gibt viele Situationen im Familienalltag, in die immer wieder dieselben Wörter einfließen. Dieser Wiederholungscharakter und die Verknüpfung mit der Lebenswirklichkeit helfen Kleinkindern dabei, ihren Wortschatz stetig zu erweitern.
Kleine Fehler? Lieber indirekt korrigieren!
Versucht sich der Nachwuchs an einem neuen Wort, ist es normal, dass ihm dabei Verwechslungen unterlaufen. Auch das Vertauschen, Weglassen oder Ersetzen von Lauten gehören in diesem Alter zur normalen Entwicklung dazu. Um die Freude am Sprechen zu erhalten und das Selbstwertgefühl des Kindes zu stärken, sollten Eltern auf sprachliche Fehler indirekt reagieren. Logopäd:innen sprechen hier von korrektivem Feedback. Dabei wiederholen Eltern das fehlerhafte Wort auf korrekte Weise in einem bekräftigenden Satz. So erhalten Kinder eine Rückmeldung, ohne dass sie sich vorgeführt oder beschämt fühlen.
Wie lange eine Therapie dauert, ist von Kind zu Kind unterschiedlich. Ziel ist der sogenannte Wortschatzspurt. Diese Phase tritt normalerweise im Alter von 18 bis 20 Monaten auf. Wie der Begriff schon erahnen lässt, sprechen Kinder dann plötzlich zahlreiche neue Wörter – so als hätte es „Klick“ gemacht.
Tipp für Eltern
Kleinkindern zu neuen Wörtern verhelfen – so geht’s:
Neue Wörter sollten Eltern häufig und in einfachen Sätzen einbringen. Dabei steht das neue Wort in verschiedenen Positionen im Satz.
Beispiel: „Schau mal, der Ball rollt. Der Ball ist weg. Wo ist der Ball? Ah, da ist der Ball!“