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„Mein Name ist Violeta“ – Filmempfehlung
Josephine Hepperle · 28.06.2022
zurück zur Übersicht„Mein Name ist Violeta“ startet am 30. Juni 2022 in den deutschen Kinos © W-film
Wie kann eine Welt aussehen, in der Kinder zur Welt kommen und sich so entfalten können, wie sie sind und sein wollen? Mutter Franceska, Vater Nacho und Tochter Violeta geben uns einen ehrlichen Einblick in ihre Familie und zeigen, wie so eine Welt, in der die Entfaltung eines Kindes an erster Stelle steht, sein kann.
Violetas Mutter Franceska war die erste aus der Familie, die spürte, dass ihr Sohn sich als Mädchen identifiziert. Es war kein einfacher Weg bis schließlich die gesamte Familie Ignacio als Violeta anerkannte. Franceska sagt: „Violeta hat mir den Respekt beigebracht, den wir anderen Menschen gegenüber haben müssen. Sie hat mich die Liebe gelehrt.“ Bei diesen Worten bekomme ich Gänsehaut. Zum einen, weil ich spüre, welche tiefe Verbindung zwischen Tochter und Mutter besteht. Zum anderen, weil mir bewusst wird, dass viele Kinder, denen es ähnlich geht, die verzweifelt versuchen genau diese Liebe ihre Eltern zu lehren, scheitern.
Beschützen und Behüten
Dabei wollen die meisten Eltern doch das Beste für ihre Kinder. Sie wollen sie behüten, beschützen, umsorgen und auf die Zukunft vorbereiten. Es wird abgeglichen mit dem eigenen Lebensweg, der eigenen Perspektive auf die Dinge. Weitergegeben wird das, was wir kennen, verstehen und glauben zu wissen. Was passiert also mit uns und unserer Wahrnehmung, wenn wir uns mit etwas konfrontiert sehen, was uns unbekannt ist? Ist es Angst, Ungewissheit, was passieren könnte oder was steckt hinter diesem Phänomen von der Ablehnung des „Unbekannten“?
Im Bild sind Franceska und Violeta zu sehen. Den Filmemachenden wurde empfohlen, Violetas Gesicht nicht eindeutig im Film zu zeigen. © W-film
Franceska reagierte so, wie viele Menschen, die sich vor Unwissen gestellt sehen: Erstmal wird das Internet durchforstet. Klar wird, dass es so gut wie keine Information gibt, bis sie auf ein YouTube-Video stößt. Zu sehen ist ein Junge. Ein aufgewecktes Kind, das mit seiner Schwester spielt, lacht, im Garten herumtollt. Er ist trans*. Franceska zeigt ihrem 6-jährigen Sohn das Video. Er sagt: „Mama, das möchte ich auch, nur andersherum.“ Spätestens seit diesem Augenblick setzte Franceska alles daran, dass ihr Sohn endlich das Mädchen und die Tochter sein kann, die sie schon immer gewesen ist.
Als Eltern zuhören und annehmen
Diese Szenen berühren. Sie zeigen, wie wichtig es ist als Eltern zuzuhören. Zuhören, wenn wir etwas nicht kennen, zuhören, wenn wir etwas nicht verstehen. Zuhören und nicht die eigene Perspektive, Meinung oder das eigene Weltbild einbringen, um das wegzudrücken, was wir nicht sofort einordnen können.
Die Sache mit der Ungewissheit kennt Nacho, Violetas Vater, zu gut. Er verstand die Situation zuerst nicht. Was bedeutet Transsexualität? Zwar kannte er Transpersonen, jedoch nur aus seinem Arbeitskontext. Nacho ist Regisseur in der Pornoindustrie. Er und seine Ex-Freundin Franceska lernten sich über die Branche kennen und lieben. Heute sind sie zwar kein Paar mehr, aber kämpfen als Team für die Entfaltung ihrer Tochter und ihrer Geschlechtsidentität.
Vater Nacho und Tochter Violeta tauschen sich über die Sorgen des Vaters aus. © W-film
Einige Stimmen der Öffentlichkeit äußerten, dass die geschlechtliche Identität ihrer Tochter, die Strafe für die beiden sei für ihren Lebensstil und ihren beruflichen Hintergrund. Bei diesen Vorwürfen muss ich schlucken. Ich werde traurig und wütend zugleich. Ich kann nicht begreifen, wie Menschen solche Behauptungen aufstellen und die geschlechtliche Identität eines Kindes als Bestrafung betiteln können. Ich finde es furchtbar.
Durch Gespräche mit Franceska und vor allem mit Violeta verstand Nacho, dass sein Kind schon immer seine Tochter gewesen ist. Er setzt sich unerbittlich gegen Diskriminierung und Transphobie ein, kämpft im Besonderen für die rechtlichen und gesetzlichen Ansprüche für Violeta. Er bestärkt, trainiert sie im Boxen und empowered sie darin, immer sie selbst zu sein. Diese Szenen berühren, ohne sie mit Emotionen zu überladen.
Rückhalt in der LGBTQIA+-Community
Die Geschichte von Violeta und ihrer Transition ist ein absolutes Positivbeispiel. Der Dokumentarfilm macht jedoch auch die Stimmen hörbar, die sich täglich mit Transphobie und Diskriminierungen auseinandersetzen müssen. Iván hat vor zwei Jahren mit der Hormonbehandlung begonnen. Für ihn ist Anabel, die Hülle, in die er vor dem Outing steckte, gestorben. Zwar bekommt Iván emotionale Unterstützung von seiner Partnerin Jessy, findet aber keine Arbeit, da er als Transmann mit Brüsten immer wieder Ablehnung erfährt.
Wie wichtig die Unterstützung und der emotionale Halt in der Community sind, spürt man an vielen Stellen des Films. Die Lebensgeschichten sind häufig ineinander verwoben. Esther und Xavier haben nach schwerem Mobbing in der Schule, mit körperlichen Angriffen und psychischen Schikanen ihren Sohn Alan verloren. Er suizidierte sich mit 17 Jahren. Zuvor versuchte er sich selbst in eine Klinik einzuweisen, wo er bereits die Tagesklinik besuchte. Er wurde abgewiesen – ein Wendepunkt in der Familie. Seitdem sind Mutter und Vater engagierte Aktivist*innen, demonstrieren für trans* Rechte und sind die Pat*innen für alle trans* Jugendlichen in Rubí, auch für Iván.
Mutter Esther und Vater Xavier stehen für trans* Menschen und ihre Rechte ein. © W-film
Die Protagonist*innen Leyre, Carla und Silvia machen die extremen Schattenseiten sichtbar. Silvia erlebte während der Franco-Diktatur extreme Marginalisierung, fand keine Anstellung und musste, wie viele andere trans* Frauen ihren beruflichen Weg in der Prostitution gehen. „Als Franco noch lebte, war Transsexualität ein Akt reinen Mutes“, beschreibt Carla Delgado. Sie kämpft als erste trans* Abgeordnete in Madrid dafür, dass trans* Personen vor dem Gesetz nicht mehr als Menschen mit einer psychischen Störung angesehen werden. Leyre schildert ihre Erlebnisse als trans* Frau als Schauspielerin in einem Theaterstück. Im Film wird ihre bevorstehende Vaginoplastik thematisiert. Mit der Geschichte von Leyre wird deutlich, welche Entscheidungen Violeta in der Zukunft zu treffen hat, auf ihrem Weg als trans* Frau zu leben.
Berührend sind auch die Szenen am Ende des Films. Alle Protagonst*innen geben der 11-jährigen Violeta Wünsche mit auf den Weg. Ein besonders Bedeutender ist der von Carla. Sie schreibt: „Liebe Violeta, sei glücklich!“ Das wünsche ich mir für Violeta, für Iván, Esther und alle anderen Personen, die für ihre Rechte als Menschen täglich kämpfen müssen, um sichtbar zu sein, um gehört zu werden.
Was der Film bewirken kann
Den Dokumentarfilm von David Fernández de Castro und Marc Parramon sollten sich Eltern, Lehrkräfte und Kinder zu Herzen nehmen. Sinnvoll wäre eine Einbindung in Bildungskonzepte. Der Film könnte an Schulen im Rahmen von Antidiskriminierungsarbeit gezeigt werden. Die Schüler:innen müssten auf einige Inhalte, die im Film angeschnitten, vorbereitet werden. Eine intensive Nachbereitung und offene Gesprächsrunde nach dem Film sind ebenfalls sinnvoll. Ich habe nach dem Besuch des Films genau das erlebt. Die Besucher:innen des Kinos saßen nach der Vorführung noch lange zusammen. Menschen zwischen 12 und 62 Jahren tauschten sich über das Erlebte aus. Ein weiterer Schritt in Richtung Sichtbarkeit, und Entstigmatisierung schloss sich an das Gezeigte an. Diese Themen zum Menschsein rücken damit in die Mitte unserer Gesellschaft.
Dokumentarfilm: „Mein Name ist Violeta – Me llamo Violeta“
Spanien 2019
Regie: David Fernández de Castro & Marc Parramon
75 Minuten
Altersfreigabe FSK 12
Kinostart ist am 30. Juni 2022, eine Übersicht der Kinotermine gibt es online.
Glossar
In dem Beitrag tauchen einige Begriffe und Wörter auf, die euch eventuell nicht bekannt sind. Wir haben ein kurzes Glossar erstellt, um euch mehr Orientierung für den Artikel zu geben.
trans*
trans* ist ein Begriff für Personen, die sich nicht oder nur teilweise mit dem Geschlecht identifizieren, dass bei der Geburt eingetragen wurde. Das Sternchen ist ein Platzhalter. Es dient dafür, dass sich nach Möglichkeit viele Menschen in dem Begriff und dem Sternchen wiederfinden können.
LGBTQIA+
Das Akronym LGBTQIA+ oder auch LGBTQIA* steht für Lesbian (Lesbisch), Gay (Schwul), Bisexual (Bisexuell), Transgender, Queer, Intersexual (Intersexuell), Asexual (Asexuell). Das + oder das * dient als Platzhalter. Es soll nach Möglichkeit alle Menschen ansprechen, die sich in den verwendeten Zuordnungen nicht wiederfinden.
Community
In diesem Zusammenhang bildet sich die Community, also die Gemeinschaft von Menschen aus den Personen, die sich in LGBTQIA+ wiederfinden. Allgemein stehen sie für Vielfalt, Individualität, Sexualität, Akzeptanz und Stolz.