Kolumne
Büchse der Pandora
Frau Karli · 02.05.2023
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Gestern habe ich unserer jüngeren Tochter bei ihrer fröhlichen Bügelperlen-Session geholfen und dazu „Bibi & Tina“ mit ihr gehört, obwohl mich das permanente Gewiehere normalerweise in den Wahnsinn treibt. Am Abend haben wir noch viel zu lange in ihrem Lieblingsbuch geschmökert. Solch heimelige Vibes werden demnächst von neuen, ganz anderen Themen überlagert. Denn der Herbst rückt näher – und somit der Wechsel an die weiterführende Schule. Eine Zäsur, die auch beklommen macht: Spätestens dann werden das gehassliebte Internet und Smartphones für unsere Kleine omnipräsent sein.
Die Büchse der Pandora ist weit geöffnet. Und wenn wir nicht höllisch aufpassen, wird unsere Aufmerksamkeit völlig und dauerhaft von Angeboten und Dynamiken vereinnahmt, die längst aus dem Ruder gelaufen sind. Allverfügbarkeit, Dauerstimulanz, Entgrenzung: Yayyy! Und mittendrin unsere Kinder. Schon bald wird auch unsere Jüngste ganz selbstverständlich im Netz herumstromern, wenn sie für die Schule recherchiert – und dabei in andere Gefilde abdriften, wie es ja auch uns Erwachsenen passiert. Sie wird umgeben sein von Teenies, für die es normal ist, lieber aufs Display zu blicken als in Gesichter und vor „Freunden“ und Wildfremden herumzuposieren. Es wird Treffen mit Gleichaltrigen geben, das passiert schon jetzt, bei denen gezischt wird: „Seid alle still, ich drehe einen Snap!“ Kein schönes Miteinander.
Doch wer kann es den Kindern verübeln? Es fällt schon uns Erwachsenen schwer, einen guten, praktikablen Umgang mit den geliebten, verhassten Tools zu pflegen, ohne in Süchte oder Phlegma zu verfallen und kirre zu werden. Allen, die ihn noch nicht kennen, sei an dieser Stelle der Dokumentarfilm „The Social Dilemma“ empfohlen, der die Auswirkungen der sozialen Medien auf die Gesellschaft und das individuelle Verhalten behandelt. Ich werde am ersten Elternabend der neuen Schule jedenfalls darum bitten, dass die Kinder zunächst noch keine Handynummern austauschen, sondern einander erst mal analog kennenlernen. Als unsere Große in die fünfte Klasse kam, hat die Klasse es auch so gehalten. Mal sehen, wie ein solcher Vorschlag fünf Jahre später aufgenommen wird – nach den Lockdown-Zeiten, in denen der Familienalltag noch stärker durchdigitalisiert wurde.
Herzlichst Ihre
Frau Karli
© John Krempl/photocase.com
Frau Karli lebt zusammen mit ihren beiden Töchtern und ihrem Mann, der zugleich ihre Jugendliebe ist, in freundlichen Verhältnissen irgendwo im Raum Köln. Sie beherrscht das gesamte Alphabet, hält herzlich wenig von medialer Freizügigkeit und kann alle Familienmitglieder am Duft ihrer Stirn erkennen.
In jeder KÄNGURU-Ausgabe und online: Kennt ihr schon alle Frau-Karli-Texte?