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Gesundheit

Zahnfehlstellung durch falsches Schlucken

Janina Mogendorf · 01.02.2019

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Die Zunge hat Kraft und kann auf Dauer Zähne verschieben. © pascalgenest/iStockPhoto.com

Die Zunge hat Kraft und kann auf Dauer Zähne verschieben. © pascalgenest/iStockPhoto.com

Viele Zahnfehlstellungen resultieren aus einer Schluckstörung, die junge Patienten bereits im Kleinkindalter entwickeln. Kieferorthopäden und Logopäden arbeiten mit Eltern und Kindern gemeinsam daran, Zähne und Kiefer wieder richtig in Form zu bringen.

Malia sitzt entspannt im grünen Zahnarztstuhl und wartet auf die Ärztin. Wir waren schon so oft hier, dass sie am Eingang der Praxis die Schuhe auszieht und auf Socken weiterläuft. Ein klares Zeichen von „Ich fühl mich zu Hause“. Die Milchzähne meiner Sechsjährigen sind strahlend weiß und gesund. Aufgereiht wie an einer Perlenschnur sitzen sie im Mund. Das war allerdings nicht immer so.

Als Malia zwei Jahre alt war, hatte sie einen besten Freund, ohne den sie nicht einschlafen konnte. Er hieß „Brummbrumm“ und war kein Teddy, sondern ein pinker Schnuller. Auch tagsüber hatte sie ihn immer dabei, behielt ihn irgendwann auch beim Sprechen im Mund. Brummbrumm beruhigte und tröstete sie. Im Kindergarten gab er ihr Geborgenheit. Allerdings verschob er auch ihre Zähne.

An einem schönen Märztag ließen wir uns vor einem Bonner Café die ersten warmen Sonnenstrahlen auf die Nase scheinen. Malia war drei Jahre alt und quengelte, weil sie ihren Schnuller wollte. Da sprach uns ein älterer Herr vom Nachbartisch an. Ein Zahnarzt aus Jordanien, der uns dringend empfahl, Malia das Schnullern abzugewöhnen. „Sie hat einen offenen Biss, der kann sich jetzt noch zurückbilden“, beschwor er uns.

Es folgten drei harte Wochen mit wenig Schlaf, dann war Brummbrumm Geschichte. In den folgenden Monaten konnten wir fast dabei zusehen, wie sich die Lücke zwischen den oberen und unteren Schneidezähnen schloss. Trotzdem kam die Zunge bei Zischlauten gerne noch hervor. Außerdem hatte Malia Probleme beim Abbeißen, verschmähte frustriert ihre geliebten Salamibrote.

Ein Hinweis nach der zahnärztlichen Untersuchung im Kindergarten gab schließlich den Ausschlag. Wir machten einen Termin bei unserer Zahnärztin, die zugleich Kieferorthopädin ist. Sie nahm sich viel Zeit, ging geduldig auf Malia ein und erklärte ihr alles, was bei der Untersuchung passierte. Schnell war klar: Unsere Tochter hat einen Kreuzbiss. Der Unterkiefer ist etwas größer als der Oberkiefer und die untere Zahnreihe liegt beim Zubeißen knapp vor der oberen.

Nur jeder Zwanzigste hat das perfekte Gebiss

Mit ihrer Zahnfehlstellung ist Malia in guter Gesellschaft. Mehr als 60 Prozent aller Kinder und Jugendlichen haben damit zu tun. Nur jeder Zwanzigste hat das perfekte Gebiss. In dem Fall sind die Zähne gerade angeordnet und die oberen Schneidezähne zeigen leicht über die unteren, so dass die Zahnreihen beim Abbeißen wie eine Schere ineinandergreifen. Die Backenzahnreihen sitzen versetzt übereinander.

Aber dieser Idealfall hat in der Tat Seltenheitswert. Neben dem offenen Biss gehört die Progenie zu den häufigen Fehlstellungen, dabei beißen die unteren Zähne vor die oberen. Malias Kreuzbiss ist eine Form davon. Daneben gibt es die sogenannte echte Progenie mit einem zu groß entwickelten Unterkiefer, der im Profil durch das vorstehende Kinn erkennbar ist. Andersherum führt ein zu großer Oberkiefer zum Überbiss, das heißt die oberen Schneidezähne stehen vor.

Etwa die Hälfte aller Fehlstellungen ist angeboren, denn Form und Größe des Kiefers werden unabhängig von der Zahngröße vererbt. So kommt es vor, dass Klein-Lisa die großen Zähne mütterlicherseits und den kleinen Kiefer väterlicherseits geerbt hat und die bleibenden Zähne nach dem Zahnwechsel nicht genug Platz finden. Im umgekehrten Fall, also großer Kiefer, kleine Zähne entstehen dagegen Zahnlücken.

Genauso häufig sind allerdings die hausgemachten Zahnfehlstellungen. Falsche Sauger und Schnuller führen auf Dauer zu schiefen Zähnen. Verlieren Kinder durch Karies oder Unfälle seitliche Milchzähne, so wandern die hinteren Zähne nach vorne und behindern die Zunge. Und schließlich sind es auch Angewohnheiten, wie Daumenlutschen, Lippenbeißen oder ein unbewusstes Anspannen des Kiefers, die Fehlstellungen verursachen.

Was nun ererbt und was erworben ist, lässt sich letztlich nicht immer klären. Oft ist es eine Mischung aus beidem. Bei Malia trug auch ein falsches Schluckmuster zur Fehlstellung bei. Nach eingehender Beratung durch die Kieferorthopädin war bei Malia klar: Wir versuchen es mit einem Mundstück aus Silikon, das speziell für das Milchzahn- und Wechselzahngebiss angefertigt wird. So oft wie möglich getragen, soll es die Zungenlage verbessern und ihr zu einer geschlossenen Mundhaltung verhelfen.

Myofunktionelle Störung: Schlucken will gelernt sein

Was versteht man unter einem falschen Schluckmuster? Logopädin Anita Kittel, Expertin für myofunktionelle Therapie, erklärt: „Es gibt im ersten Lebenshalbjahr viele Reflexe, die mit der Zeit automatisch umtrainiert werden. So auch der Schluckreflex. Der Säugling stößt seine Zunge beim Schlucken nach vorne zwischen die Kauleisten. Das ist ganz normal. Durch korrektes Stillen oder die ideale Flasche wird die Zunge so trainiert, dass sie beim Schlucken stattdessen gegen den Gaumen drückt.“

Häufig wächst sich das infantile Schluckmuster jedoch nicht aus. Der Zungenvorstoß wird beibehalten und die Zunge liegt in Ruhestellung zwischen den Schneidezähnen. Beides drückt die Zähne nach vorne. „Man schluckt zwischen 1.000 und 2.000 Mal am Tag. Jedes Schlucken erfolgt mit ein bis zwei Kilogramm Kraft. Das sind zusammengerechnet vier Tonnen am Tag, die gegen die Zähne drücken“, erklärt Kittel. „Ich sage den Kindern immer, die Zunge wirkt wie eine falsche Spange.“

Zusammenarbeit mit Ärzten

Anita Kittel beschäftigt sich seit 1982 mit der Thematik. Damals hatte ein Zahnarzt die junge Logopädin angesprochen und um Unterstützung eines Patienten mit Schluckproblematik gebeten. „Ich habe zunächst einen Kongress besucht, bei dem Methoden aus den USA vorgestellt wurden. Da fehlten mir jedoch komplett die mundmotorischen Übungen.“ Daraufhin erarbeitete Kittel ihre eigene Methode und schult seither Logopäden, Zahnärzte und Kieferorthopäden.

„Wenn myofunktionelle Störungen ein Grund für die Fehlstellung sind, sollte die kieferorthopädische Behandlung immer von einer logopädischen Therapie begleitet sein“, betont Kittel. Sie wünscht sich, dass alle Ärzte, die mit Kindern zu tun haben, Augen und Ohren offenhalten. Kinderärzte und Zahnärzte sind meist die ersten Anlaufstellen für kleine Patienten. Sie sollten an die Logopädie denken, wenn sie zum Beispiel ein falsches Schlucken vermuten.

Auch für Hals-Nasen-Ohren-Ärzte sind Kieferwachstum und Mundmotorik relevant. Bei ständigen Mittelohrentzündungen und Atemwegsinfekten atmen die Kinder vermehrt durch den Mund. Wenn aber der Lippendruck fehlt, wachsen die Zähne nach vorne. Umgekehrt führt eine schwächelnde Zungen- und Mundmuskulatur häufiger zu Infekten, weil der Mund im Schlaf offensteht und die Schleimhäute austrocknen.

Worauf Eltern achten können

Auch Eltern können erste Anzeichen einer Schluckproblematik erkennen. „Wenn ein Kind ständig mit offenem Mund dasitzt, ist die Zunge nicht am Platz. Auch eine schmale Oberlippe und eine volle, nach außen gewölbte Unterlippe können Hinweise sein.“ Artikulationsstörungen wie Lispeln sind oft eine Folge der falschen Zungenhaltung. Bei Zischlauten wie S und SCH und auch bei den Buchstaben N, D, T, L landet die Zunge dann da, wo sie nicht hinsoll: zwischen den Zähnen.

Eine myofunktionelle Störung kann sich auch durch wenig Mimik und eine schlaffe Körperhaltung ausdrücken. „Häufig lümmeln die Kinder in der Schulbank und wirken uninteressiert. So mancher Lehrer unterschätzt sie deshalb.“ Mit der myofunktionellen Therapie veränderten sich Haltung und Ausstrahlung der Kinder. „Plötzlich sind die Lippen geschlossen und ihre Mimik ausgeglichen. So entsteht ein viel besserer Eindruck beim Gegenüber.“

Wann mit der Therapie beginnen

Idealerweise werden Funktionsstörungen von Lippen und Zunge bereits im Kindergartenalter entdeckt und angegangen. Dann hat sich die falsche Zungenhaltung noch nicht so lange eingeprägt und ist leichter zu verändern. Bei einer Progenie kann ein früher Therapiebeginn helfen, das Wachstum zu normalisieren. Ganz spielerisch trainiert Anita Kittel mit Kindern ab vier Jahren die Zungen- und die Lippenruhelage.

„Den Kindern ist nicht bewusst, dass die Zunge aus 17 unterschiedlichen Muskeln besteht“, erklärt die Logopädin. In 15 Übungen – von ganz leicht bis zu richtig schwierig – lernen sie nun die Zunge zu koordinieren und die Muskulatur zu trainieren. „Dabei versuchen die Kinder zum Beispiel bei weit offenem Mund mit der Zungenspitze in Richtung Nase zu zeigen.“ Erst wenn die kleinen Patienten das gut beherrschen, folgen Schluckübungen.

„Wir zeigen den Kindern, wie sie gaumengerichtet schlucken. Später probieren sie das mit kleinen Bissen und etwas Flüssigkeit aus, und so wird das alte Schluckmuster nach und nach ersetzt.“ Gerade wenn es um das Schlucktraining geht, sind die Eltern angehalten, mitzuarbeiten und die Kinder regelmäßig zum Üben aufzufordern. „Es ist wie beim Sport, da muss man schon mehrmals in der Woche was tun, damit man fit wird. Wenn die Eltern das Training unterstützen und es bei kleineren Kindern als Ritual in den Tagesablauf aufnehmen, haben wir auch Erfolg.“

Mit den Eltern im Gespräch bleiben, sie aufzuklären und in den Therapieverlauf einzubinden ist daher sehr wichtig. Umgekehrt sollte auch die Familie Rückmeldung geben, wie sie mit den Übungen klarkommt und in wie weit sie das Training in den Alltag integrieren kann. Um Eltern und Kinder an das Training zu erinnern und das Kind zu motivieren, eignen sich zum Beispiel Übungskalender. Darin wird eintragen, wann geübt wurde. Vielleicht gibt es zur Belohnung einen Stempel oder Sticker. Die meisten Übungen sind so spielerisch konzipiert, dass die Kinder auch Lust dazu haben.

Kindgerechte Übungen für die Mundmotorik

Malia liebt zum Beispiel „Zungentattoos“. Kleine bedruckte Stückchen Esspapier, die mit dem Bild nach unten auf die Zungenmitte gelegt und dann gegen den Gaumen gedrückt werden. So erscheint das „Tattoo“ auf der Zunge. Auch Salzstangen essen, ohne die Hände zur Hilfe zu nehmen, Wattebäusche pusten, um die Wette schnalzen oder sich die unterschiedlichen Bereiche der Zunge mit Hilfe von Brausepulver bewusst machen. All das sind Aufgaben, die an Kindergeburtstagsspiele erinnern und die Malia nur zu gerne im Alltag aufgreift.

Dennoch gibt es auch bei uns Zeiten, in denen es schwierig wird, an der Sache dranzubleiben. Etwa bei Infekten oder auf Reisen. Vor der Einschulung unserer Tochter waren wir zwei Monate auf Europatour und kurz nach der Abfahrt begann das Silikonmundstück zu drücken. Irgendwann wollte sie es gar nicht mehr tragen. Und auch das abendliche Ritual zur Kräftigung der Kaumuskulatur ließen wir angesichts von Bergen, Meer und Urlaubsfeeling schleifen. Die Quittung gab es dann beim nächsten Zahnarztbesuch.

Dauer der Therapie

Die myofunktionelle Therapie umfasst zwischen zwanzig und dreißig Terminen. Die ersten Erfolge sind aber häufig viel schneller sichtbar. „Wir machen zu Beginn einer Therapie Videos und Fotos vom Kind, damit wir später vergleichen können“, erzählt Kittel. „Bei einem unserer Patienten war immer die Mutter dabei, aber in der achten Stunde kam der Vater mit.“ Kittel fragte ihn, ob er eine Veränderung an seinem Kind bemerkt hätte. Als der Vater verneint, zeigte sie ihm die Fotos vom Beginn. „Er war ganz baff“, lacht Kittel.

„Das Wichtigste nach erfolgreicher Therapie sind die Auffrischungsstunden“, weiß Kittel, seit sie selbst eine Studie bei vierzig behandelten Patienten durchgeführt hat. Zum Ende der Therapie schluckten alle Teilnehmer zu 80 Prozent richtig. Bei einer Nachuntersuchung zwölf Wochen später waren es nur noch 67 Prozent. „Wir haben uns dann noch dreimal im Abstand von etwa zwölf Wochen gesehen und das Training aufgefrischt. Nach einem Jahr haben alle Patienten wieder zu 80 Prozent richtig geschluckt.“

Seither legt die Logopädin größten Wert auf die Nachsorge. „Deshalb sollten die Eltern ihren Kindern nach der letzten Therapiestunde nicht sagen: So jetzt ist es geschafft.“ Denn bei der Schluckstörung handelt es sich um eine jahrelang falsch einprogrammierte Verhaltensweise. Und genauso muss sich das neue Verhalten über lange Zeit einprägen, um sich wirklich zu festigen.  

Auch im weiteren Verlauf der kieferorthopädischen Behandlung sind Auffrischungen beim Logopäden zielführend. „Wenn die Patienten eine neue Spange bekommen, ändern sich die Verhältnisse im Mund und damit auch die Zungenfunktion“, sagt Kittel. Oft sind es nur ein paar Tipps, die die Kinder wieder auf die richtige Spur bringen. Allerdings wissen das viele nicht und daher ist es nicht überall gängige Praxis. Umso wichtiger ist es, dass alle beteiligten Heilberufe im Gespräch bleiben und die Behandlung miteinander abstimmen.

Den richtigen Arzt finden

Eine kieferorthopädische Behandlung ist langwierig und nicht günstig. Umso wichtiger ist das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt, Eltern und Patienten. Stiftung Warentest empfiehlt, beim Erstgespräch nach der genauen Diagnose, dem Ablauf der Behandlung und den verschiedenen Verfahren zu fragen. Wichtig ist auch, die medizinische Notwendigkeit abzuklären und auf mögliche Probleme während der Behandlung und die Kosten zu sprechen zu kommen.

Ein guter Arzt wird eure Fragen geduldig, offen und kompetent beantworten. Holt euch eine Zweitmeinung ein, wenn ihr unsicher seid. Ebenso wichtig für den Behandlungserfolg ist es natürlich, dass die kleinen Patienten sich wohlfühlen. Ist die Praxis kindgerecht eingerichtet? Geht der Arzt einfühlsam mit Ihrem Kind um? Beim Bundesverband für Kinderzahnärzte findet ihr Praxen in eurer Nähe, die zum Teil auch kieferorthopädisch arbeiten.

Den richtigen Logopäden finden

Bei der Suche nach einem Logopäden hilft entweder der Kieferorthopäde, der bereits gute Erfahrungen mit einer logopädischen Praxis gemacht hat. Oder ihr sucht auf der Homepage des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie nach einer Praxis. Bei einem Kennenlerntermin sollte es ein ausführliches Gespräch zu den Beschwerden, zum familiären Umfeld und zu den Wünschen und Zielen geben. Meist nimmt der Logopäde spielerisch Kontakt zum Kind auf. Dann wird ein individueller Therapieplan erarbeitet. Wichtig ist auch hier: Die Chemie zwischen allen Beteiligten muss stimmen.

In Malias Fall hat das alles gut geklappt. Meine Tochter fühlt sich bei ihrer Logopädin genauso wohl wie in der Arztpraxis und geht mittlerweile alleine dorthin. Für sie ist es ein Termin wie Reiten oder Turnen und es macht ihr genauso viel Spaß. Seit Beginn der Behandlung hat sich ihre Mundmuskulatur schon gut verbessert. Zwar stehen die unteren Zähne immer noch leicht vor den oberen und auf Salami hat sie immer noch keine Lust. Dafür hat sie keine Artikulationsprobleme mehr und die Lippen bleiben auch in entspannten Situationen geschlossen. Für uns ist das ein großer Erfolg. Wir bleiben dran.

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