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Gesundheit

Wenn Eltern psychisch erkranken

Anja Janßen · 04.10.2017

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Dieses Bild dient der Illustration und hat zu den im Text genannten Personen keine Verbindung. © Shanina/iStockPhoto.com

Dieses Bild dient der Illustration und hat zu den im Text genannten Personen keine Verbindung. © Shanina/iStockPhoto.com

Bereits seit zehn Jahren kümmert sich Elena im Rahmen eines Hilfsprojekts als Patin um Jasmin, deren Mutter psychisch erkrankt ist. Alle drei verbindet eine Beziehung, die von Vertrauen, Beständigkeit und Hilfsbereitschaft geprägt ist.

Es ist einer der richtig heißen Tage im August, als ich Elena in ihrem Reihenhaus im rechtsrheinischen Köln besuche. Hinter der Siedlung ragen Mehrfamilienhäuser in den stahlblauen Himmel. Der Grund für meinen Besuch ist ein gemeinsamer Ausflug zu Elenas Patenkind Jasmin. Die beiden verbindet eine ganz besondere Beziehung, denn Jasmin ist nicht die Tochter von Freunden oder Verwandten, so wie es bei Patenschaften häufig der Fall ist. Elena engagiert sich im Rahmen eines Hilfsprojekts, das Paten an Kinder psychisch erkrankter Eltern vermittelt. Als sie das Mädchen kennenlernte, war es gerade mal vier Jahre alt. Heute ist Jasmin ein ausgewachsener Teenager und mitten in der Pubertät.

Elena heißt eigentlich anders, doch um die Identität ihres Patenkindes zu schützen, wurde ihr Name ebenso wie der des Kindes und seiner Mutter in diesem Artikel geändert. Stellt euch die Patin als eine Frau von zierlicher Statur vor, die ihr langes, schwarzes Haar offen trägt und sich kerzengerade hält. Sie gehört zu den Menschen, die nicht nur einen Raum sofort durch ihre Präsenz füllen, sondern auch schnell und ungezwungen mit anderen ins Gespräch kommen. Auf der Autofahrt zu Jasmin erzählt sie mir, wie es zu der ungewöhnlichen Patenschaft kam. Seit über 20 Jahren arbeitet Elena als Krankenschwester in der LVR-Klinik, größtenteils in der Psychiatrie. Es war Oberärztin Dr. Ilka Markwort, die das Patenprojekt vor zehn Jahren mit aufgebaut hat und auf sie zukam. „Mein Sohn war zu dem Zeitpunkt schon erwachsen, also dachte ich: Warum nicht?" Elena spricht mit einem weichen polnischen Akzent und erinnert sich an die missglückte erste Patenschaft, die scheiterte, bevor alles überhaupt richtig begonnen hatte. „Die Mutter des Kindes war sehr krank. Sie hatte mich irgendwie in ihr Warnsystem aufgenommen und den Kontakt schnell abgebrochen." Der zweite Versuch klappte umso besser. Seit zehn Jahren - das sind mehr als zwei Drittel von Jasmins Leben - kümmert sich Elena nun schon um das Mädchen, das ganz in ihrer Nähe wohnt. Einmal in der Woche unternehmen die beiden etwas zusammen, einmal pro Monat übernachtet Jasmin bei Elena und ihrer Familie.

Rund 3 Millionen Kinder sind in Deutschland betroffen

Rückblende. Zwei Tage vor meinem Besuch bei Elena treffe ich Dr. Ilka Markwort in ihrem Büro in der LVR-Klinik Köln. Die Oberärztin mit dem festen Händedruck leitet die Abteilung Allgemeine Psychiatrie I und behandelt im Krankenhaus ausschließlich erwachsene Patienten. Daneben hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, etwas für die Kinder ihrer Patienten zu tun. In Deutschland leben rund drei Millionen Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil und sie alle haben ein zwei- bis sechsfach erhöhtes Risiko, selbst zu erkranken. „Nicht aus genetischen Gründen, sondern aufgrund der Umstände, unter denen sie aufwachsen", erklärt Markwort. Sie spricht von Armut, Beikonsum von Drogen und umgekehrten Rollenverteilungen. Die Kinder übernehmen zum Teil Elternfunktionen und damit viel zu früh zu viel Verantwortung. Meistens fehlt ein stützendes familiäres System, denn die Eltern leben häufig in Trennung und haben oft keinen Kontakt zu Verwandten.
Markwort bedauert, dass es in Deutschland keine standardisierte Regelversorgung für betroffene Kinder gibt. Deshalb hat sie sich für den Aufbau des Patenprojekts eingesetzt, das sich erst seit dem vergangenen Jahr nicht mehr von Spendentopf zu Spendentopf retten muss, sondern nun endlich eine Regelfinanzierung durch die Stadt Köln erhält. Mittlerweile vermittelt nicht mehr sie, sondern das Landesjugendamt die Patenschaften. Anfragen kommen inzwischen auch von Schulen oder interessierten Müttern - jedoch nie von Vätern.

Zurück zu Elena. Nach rund zehn Minuten Fahrt haben wir unser Ziel erreicht: ein mehrstöckiges Haus, gleich hinter einer Siedlung großzügiger Einfamilienhäuser. Jasmin und Elena begrüßen sich herzlich mit einer Umarmung. Die 14-Jährige trägt Jeans, ein graues T-Shirt und hat die Haare zu einem Zopf gebunden. Ihre Mutter Monika, eine schlanke Frau in den Vierzigern mit kurzem, schwarzem Haar, begrüßt mich freundlich und verschwindet dann schnell noch einmal in der Küche. Zum Mittagessen gab es Schnitzelpilze, zubereitet aus selbst gesammelten Exemplaren, und Monika packt für Elena und ihren Mann ein Essenspaket für den Abend. Das Verhältnis der beiden Frauen wirkt vertraut, trotzdem schimmert durch, dass sich der Kontakt hauptsächlich zwischen Jasmin und Elena abspielt.

Leben mit Persönlichkeitsstörung, Trauma und Depressionen

Als wir bei Kuchen und kalten Getränken im Wohnzimmer sitzen, fällt mein Blick auf die Fotografien, die an der Wand über dem Sofa hängen: Jasmin, die als kleines Mädchen in die Kamera lächelt, ihr sieben Jahre älterer Bruder als Schulkind, dann als lässig gekleideter Heranwachsender, die Kappe schräg aufgesetzt. Mittendrin ein Selfie von Monika, die mit ihren Kindern lachend die Köpfe zusammensteckt. Gerahmte Erinnerungen an glückliche Momente im Leben mit einer psychischen Erkrankung. Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Posttraumatische Belastungsstörung und chronische Depressionen - ihre Erkrankung umreißt Monika mit nüchternen Fachbegriffen, die erahnen lassen, dass sie schon ihr gesamtes Leben in einem kräftezehrenden Kampf um psychische Stabilität verbringt. Mehrmals kam es in ihrem Leben zu Einbrüchen. Dann schaffte Monika den Haushalt nicht mehr, konnte sich nicht um die Kinder kümmern, wollte das Bett nicht mehr verlassen. Hinzu kommt: Monika ist alleinerziehend und hat keinen Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie. Die Zeit, bevor sie als Patientin von Dr. Markwort von dem Patenprojekt erfuhr, hat sie als große Belastung in Erinnerung. „Da war ständig dieser Druck, dass ich funktionieren muss, dass ich nicht krank werden darf. Die Frage, was mit meinen Kindern passiert, wenn ich krank werde, war so belastend, dass ich dadurch psychisch noch labiler wurde."

Zweimal musste die Mutter bereits für mehrere Wochen in eine Klinik, einmal sogar für einen vollen Monat. Während dieser Phasen lebte Jasmin bei Elena und ihrer Familie, fuhr mit ihnen sogar in den Urlaub. Auch den älteren Bruder hätte die Familie aufgenommen, doch er wollte oder konnte sich auf das Patenprojekt nicht einlassen und wählte während der Klinikaufenthalte seiner Mutter den Weg, den auch Jasmin ohne ihre Patin hätte gehen müssen: die Unterbringung im Heim. Für Monika, die als Kind missbraucht wurde, ist es undenkbar, ihre Tochter wildfremden Menschen anzuvertrauen. Ohne Elena hätte sie sich einer stationären Aufnahme verweigert, hätte die Aufenthalte zumindest versucht, abzukürzen oder bis zum nächsten Zusammenbruch hinausgezögert. So aber wusste sie ihre Tochter in guten Händen, konnte loslassen und sich um sich selbst kümmern. „Das Patenprojekt hat viel zu meiner eigenen Stabilität beigetragen", resümiert Monika. „Im Endeffekt sind mir dadurch etliche Krankenhausbesuche erspart geblieben."

15 Paten engagieren sich in dem Hilfsprojekt

Nahezu die Hälfte der Patenschaften verlaufen so konstant wie die von Elena und Jasmin. In den anderen Fällen kommt es zu Abbrüchen oder Schwierigkeiten, beispielsweise weil die Mutter die Patin als Konkurrentin einstuft. Dr. Markwort bietet in solchen Fällen oder bei anderen Fragen Beratung und Supervision an und schult die Paten durch Fortbildungen zu psychischen Krankheitsbildern. Bisher zählt das Projekt 15 Paten - eine bunt gemischte Gruppe aus Familienmüttern und -vätern, Rentnern und alleinstehenden Frauen. Viele gehen sozialen Berufen nach, was allerdings keine Bedingung für die Teilnahme am Projekt ist. Allen gemein ist jedoch eine außerordentlich hohe Einsatzbereitschaft. Manche Paten engagieren sich sogar über das eigentliche Ziel hinaus und besuchen an Stelle der Mütter Elternabende oder erledigen Behördengänge. Denn die Hälfte der erkrankten Mütter weist einen Migrationshintergrund auf, so dass der Austausch mit Schulen und Ämtern aufgrund von Sprachproblemen erschwert ist. Die Paten erhalten einen Zuschuss für ihre finanziellen und zeitlichen Aufwendungen, die nicht nur ein wöchentliches Treffen mit dem Kind und eine Übernachtung pro Monat umfassen, sondern auch die vorübergehende Aufnahme des Kindes in Notfallsituationen.

Monika sieht in dem Projekt nicht nur eine Entlastung für sich, sondern auch einen großen Gewinn für ihre Tochter: Jasmin hat jemanden, mit dem sie Dinge bereden kann, über die sie mit ihrer Mutter vielleicht nicht sprechen möchte. Zudem lebt ihr Elena ein zweites, ein anderes Familienbild vor. „Jasmin lernt, dass nicht alles so ist wie bei mir, dass nicht alle Familien kaputt sind, sondern dass es auch eine gute Familie gibt, in der alles funktioniert", bemerkt Monika. Den harten Satz spricht sie ohne eine Spur von Verbitterung aus.

Elena bringt Farbe in Jasmins Leben

Für Jasmin, die nach den Sommerferien in die neunte Klasse einer Realschule kommt und später Psychologin werden möchte, ist Elena wie eine Tante. Ihre Lieblingsbeschäftigungen während der gemeinsamen Treffen? „Filme gucken", sagt sie und lächelt mich dabei schüchtern an. „Oder Beauty-Tage. Dann machen wir uns Gesichtsmasken." Daneben verbindet beide das Malen, ein Hobby, dem sie gemeinsam in einem Kölner Atelier nachgehen. Jasmin zeigt mir ihre Werke, die im Flur und in ihrem Zimmer die Wände schmücken. Die Motive: ein nachtblauer Sternenhimmel und ein gewaltiger Baum, der magentafarbene Blätter verliert. Elena bringt buchstäblich Farbe in Jasmins Leben. Wie das Leben des Mädchens wohl ohne die Patenschaft verlaufen wäre? Eines steht fest: Je früher die Begleitung einsetzt, desto besser. Das jüngste Kind, für das zurzeit ein Pate gesucht wird, ist noch gar nicht geboren, die Anfrage geht auf eine schwangere Patientin zurück.

So früh wie möglich stärken

Bereits vor der Geburt anzusetzen, ist in Dr. Markworts Augen ganz wichtig. Deshalb bietet sie auch eine Schwangerschafts- und Stillsprechstunde für psychisch erkrankte Frauen an. Hier geht es um Fragen wie die Medikation während der Schwangerschaft, die Suche nach einer Hebamme und die Versorgung nach der Geburt. Zusätzlich können die Patienten in der Psychiatrie Erziehungs- und Familienberatung in Anspruch nehmen. Markworts Vorstellung von einem Idealsystem für Deutschland: „Dass Kinder- und Jugendmedizin, Frauenheilkunde, Geburtskliniken sowie Psychiatrie gut vernetzt zusammenarbeiten." Ebenso sollten Familiensprechstunden in Kliniken zur Grundversorgung gehören, um betroffene Familien möglichst früh zu begleiten und zu stärken.

Auch Elena hat in ihrer Funktion als Patin die Aufgabe, zu stärken - keinesfalls aber die, Jasmins Mutter zu ersetzen. „Es fühlt sich ein bisschen wie Familie an, aber ein gewisser Abstand ist schon da", versucht sie mir das Verhältnis zu beschreiben. Jasmin sei für sie zwar wie ein „Zieh-Kind", doch es müsse immer klar sein, wer der Erziehungsberechtigte ist. Vielmehr verstehen sich die Paten als ein Teil des Netzwerkes der Familie, ein Bindeglied, das sich vor allem durch eines auszeichnet: Zuverlässigkeit. Die Häufigkeit der Treffen nehmen im Jugendalter in der Regel ab, doch in stabilen Beziehungen bleiben die Paten weiter Ansprechpartner. Auch Elena sieht bereits die ersten Anzeichen dafür, dass ihr heranwachsendes Patenkind selbstständiger wird. „Irgendwann wird Jasmin keine Lust mehr haben, sich mit mir zu treffen. Trotzdem kann sie dann immer noch jederzeit an meine Tür klopfen." Auch, wenn dieser Zeitpunkt noch in der Zukunft liegt - ihr Versprechen gibt Elena bereits jetzt.

Info Patenprojekt

Ansprechpartnerin:

Frauke Kind
Sekretariat Allgemeinpsychiatrie I,
LVR-Klinik Köln
Wilhelm-Griesinger-Str. 23
51109 Köln
Tel. 0221 - 899 34 26
Frauke.kind@lvr.de

Anlaufstellen für Betroffene, Angehörige, professionelle Helfer oder besorgte Mitmenschen:

(Allgemeiner) Sozialer Dienst

Köln:
Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD)
Ottmar-Pohl-Platz 1
51103 Köln
Tel. 0221 - 221-0

Bonn:
Sozialer Dienst
Hans-Böckler-Str. 5
53225 Bonn
Tel. 0228 - 77 60 01

Sozialpsychiatrischer Dienst

Köln:
Gesundheitsamt
Neumarkt 15-21
50667 Köln
Tel. 0221 - 221-247 10

Bonn:
Engeltalstr. 6
53111 Bonn
Tel. 0228 - 77 38 19

Wegweiser

Auf der Seite der Stadt Köln gibt es viele Informationen sowie einen Wegweiser für Kinder psychisch kranker Eltern zum Download (Stand: März 2015).

Angebote für Kinder

  • Aufwind - Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern des Caritasverbands Rhein-Kreis-Neuss e. V.

 

 

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