Gesundheit
Hilfen bei Verhaltensauffälligkeiten
Petra Hoffmann · 01.05.2008
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Wenn sich unsere Eltern seinerzeit über Kinderkrankheiten unterhalten haben, so sprachen sie über Masern, Mumps oder Scharlach. Diese Krankheiten spielen heute in Gesprächen auf dem Spielplatz oder im Kindergarten, in der Schule oder der Kinderarztpraxis allenfalls noch eine Nebenrolle. Wir Eltern von heute tauschen uns aus über Stottern und Bettnässen, Aufmerksamkeitsprobleme und Entwicklungsverzögerungen, Depressionen und Ängste, Wahrnehmungsstörungen und Lernschwächen.
Kindergesundheit in Deutschland
Es hat in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Verschiebung von akuten zu chronischen Krankheiten und von somatischen zu psychischen Störungen stattgefunden. Das jedenfalls stellt die Kinder- und Jugendgesundheitsstudie KiGGS des Robert-Koch-Instituts fest, die erstmalig bundesweit gültige Daten zur gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen erhoben hat. Erfasst wurden neben Krankheiten und Unfallverletzungen auch Daten zum Befinden und zur Lebensqualität, zum Lebensstil und zum Risikoverhalten, zu den Lebensbedingungen und zum Sozialstatus sowie zur körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung. Die Ergebnisse waren so eindeutig, dass Studienleiterin Bärbel-Maria Kurth, im Robert-Koch-Institut Leiterin der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, sogar von einer „neuen Morbidität“ spricht, die vorrangig von Störungen der Entwicklung, der Emotionalität und des Sozialverhaltens bestimmt ist. So findet man im Bereich der psychischen Gesundheit bei 11,5 Prozent der Mädchen und bei 17,8 Prozent der Jungen Hinweise auf Verhaltensauffälligkeiten, emotionale Probleme oder Hyperaktivitätsprobleme. Besonders betroffen sind wieder einmal Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die eindeutig über weniger personale, soziale und familiäre Ressourcen verfügen.
Entwicklung nach Plan?
Nach Informationen der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin DGSPJ erhalten heute 30 Prozent der Kinder eines Geburtsjahrgangs bereits im Vorschulalter professionelle Förder- und Therapiemaßnahmen - zu viele, erklärt Professor Harald Bode, Präsident der DGSPJ. Kinder dürfen nicht mit allen Mitteln zu einem definierten Zeitpunkt in ein festes Raster gezwängt werden, sondern kindliche Entwicklung kann in ganz unterschiedlichem Tempo ablaufen. Wichtig ist allerdings, die eher unkritischen Entwicklungsverzögerungen von den ernsten und umgehend zu behandelnden Entwicklungsstörungen abzugrenzen. Vor der Einleitung geeigneter Förder- und Therapiemaßnahmen muss unbedingt eine sorgfältige Diagnostik stattfinden. Eine Schlüsselrolle nehmen hier die niedergelassenen Kinderärzte ein, die das Kind und die Familie in der Regel über einen längeren Zeitraum kennen. Besteht Anlass für eine spezielle Diagnostik, Fördermaßnahme oder Therapie, überweisen sie in die entsprechenden Förderzentren oder zu den richtigen Fachleuten.
Was ist Frühförderung?
Der Begriff Frühförderung umfasst medizinische, psychologische, pädagogische und soziale Maßnahmen für Kinder in den ersten Lebensjahren, die hinsichtlich ihrer körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung beeinträchtigt, behindert oder von Behinderung bedroht sind. Frühfördermaßnahmen werden von niedergelassenen Ärzten - in der Regel Kinderärzten - verordnet und von der Krankenkasse übernommen. Ziel ist, den betroffenen Kindern bessere Chancen für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit, für die Entwicklung eines selbstbestimmten Lebens und für die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu bieten. Eine systematische Entwicklungsförderung darf sich dabei nicht im Training von Einzelfunktionen erschöpfen. Alle Maßnahmen sind als Bestandteile eines ganzheitlichen und interdisziplinären Systems von Hilfen zu sehen, in das die Familie einbezogen wird. Frühförderung bietet deshalb neben der Diagnostik und Therapie auch die pädagogische Förderung sowie die Beratung, Anleitung und Stützung der Eltern. Dazu bedarf es eines Teams von Fachkräften aus unterschiedlichen Bereichen: Ärzte, Heilpädagogen, Psychotherapeuten, Logopäden, Ergotherapeuten, Psychologen, Sozialpädagogen und andere arbeiten in der Frühförderung - im Idealfall Hand in Hand.
Was ist ein Sozialpädiatrisches Zentrum?
Die Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) in Deutschland sind spezialisierte Einrichtungen der ambulanten Krankenversorgung zur Untersuchung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die nach Verordnung durch einen Kinderarzt oder eine Kinderärztin tätig werden können. Inhaltliche Schwerpunkte sind neuropädiatrische Krankheiten wie globale Entwicklungsstörungen, Epilepsien, Muskelerkrankungen, psychologische Störungsbilder wie Verhaltensauffälligkeiten, Störungen des Sozialverhaltens, psychosomatische Symptome, Entwicklungsstörungen wie Teilleistungsstörungen oder Folgen chronischer Erkrankungen sowie Störungen des sozialen und familiären Umfeldes wie familiäre Interaktionsstörungen, Vernachlässigung, Misshandlung oder sexueller Missbrauch. Charakteristisch für das Vorgehen der SPZ ist die fach¸übergreifende Arbeitsweise auf medizinischem, psychologischem und pädagogisch-therapeutischem Gebiet, die Einbeziehung der Familien in die Behandlung, die kindheitslange Betreuung bis ins Jugendalter und die enge Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten und Therapeuten, den Fördereinrichtungen und dem öffentlichen Gesundheitssystem.
Was ist Ergotherapie?
Ergotherapie ist nach dem Heilmittelkatalog von 2004 ein ärztlich verordnetes Heilmittel zur Verbesserung der Handlungs- und Wahrnehmungsfähigkeit bzw. der altersentsprechenden selbstständigen Versorgung im Alltag und beruht auf medizinischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen. Sie wendet sich besonders an Säuglinge, Kinder und Jugendliche, deren Entwicklung verzögert ist oder die von Behinderung bedroht oder betroffen sind. Behandelt werden Störungen der feinmotorischen und der grobmotorischen Koordination und Geschicklichkeit, der Wahrnehmungsverarbeitung der verschiedenen Sinnessysteme, des Spiel- und Arbeitsverhaltens; unterstützt wird bei den selbstständigen Verrichtungen des alltäglichen Lebens (Kommunikation, Ankleiden, Körperpflege). Ergotherapeuten unterstützen das Kind bei der Wiedererlangung und Stabilisierung der individuellen größtmöglichen Selbstständigkeit und Handlungskompetenz zuhause, im Kindergarten, in der Schule, in der Freizeit und im alltäglichen Leben. Ergotherapie ist immer handlungsorientiert, in den Therapiestunden stehen Bewegung und Spiel neben handwerklichen und kreativen Techniken, Tätigkeiten des Alltags und dem Einsatz und der Anpassung von Hilfsmitteln.
Was ist Physiotherapie?
Die Physiologie ist die Lehre von den normalen körperlichen Lebensvorgängen, Physiotherapie ist die gezielte Behandlung gestörter physiologischer Funktionen. Heilende, lindernde oder vorbeugende Wirkung erzielt die Therapie durch gezielte aktive und passive Bewegungen sowie durch den Einsatz von Reizen wie Wärme oder Kälte. Ziel der Behandlung von heilbaren Störungen ist die Wiederherstellung des natürlichen Bewegungsverhaltens. Ein Patient mit bleibenden Störungen soll durch die Therapie möglichst unabhängig von Fremdhilfe in Alltag und Beruf werden. Kinderphysiotherapie beschäftigt sich mit Erkrankungen und Entwicklungsstörungen des Kindes. Da das Kind kein „kleiner Erwachsener“ ist, sind in diesem Fachgebiet Krankheitsbilder bzw. Störungen anders als beim Erwachsenen zu behandeln. Mögliche Einsatzgebiete sind z. B. Entwicklungsstörungen, Erkrankungen des Haltungs- und Bewegungsapparates oder der inneren Organe, Unfälle und onkologische Erkrankungen. Zum Einsatz kommen Behandlungsansätze und Konzepte wie das Bobath-Konzept, die Sensorische Integration nach Jean Ayres, Vojta oder die Hippotherapie, das therapeutische Reiten. Außerdem beraten Physiotherapeuten Eltern und Einrichtungen hinsichtlich einer adäquaten Versorgung mit Hilfsmitteln. Als Berufsbezeichnung hat in Deutschland der Begriff „Physiotherapie“ im Rahmen einer Novellierung der Berufsgesetze 1994 bundesweit den Begriff „Krankengymnastik“ abgelöst.
Was ist Logopädie?
Kinder mit Sprachstörungen brauchen logopädische Therapie, die in der Regel als Einzelbehandlung, gelegentlich aber auch gemeinsam mit anderen Kindern in einer Gruppe durchgeführt wird. Die Behandlung verläuft spielerisch und ist an die Symptome, an das Alter des Kindes und seinen Entwicklungsstand angepasst. Die häufigsten Sprachstörungen bei Kindern sind Artikulationsstörungen. Hier können Kinder Laute nicht richtig bilden bzw. in Wörtern nicht richtig verwenden. Wenn neben der Lautbildung weitere Sprachfähigkeiten wie der Satzbau, der Wortschatz und/oder das Sprachverstehen gestört sind, spricht man von Sprachentwicklungsstörungen. Spricht ein Kind nicht flüssig, hat Blockaden beim Sprechen oder wiederholt Wörter oder Wortteile, kann eine Redeflussstörung vorliegen. Fachleute unterscheiden dabei zwischen Stottern (Blockaden und angestrengte Wiederholungen meist verbunden mit Sprechangst und wachsendem Vermeideverhalten) und Poltern (Wiederholungen verbunden mit häufig sehr schnellem und/oder undeutlichem Sprechen und wenig Aufmerksamkeit für das eigene Sprechen). In einem weiteren Sinne rechnet man auch Stimmstörungen (z. B. chronisch heisere Stimmen sowie nasalen Stimmklang) und die Sprechbewegungsstörungen, die in Zusammenhang mit Körperbehinderungen auftreten, zu den kindlichen Sprachstörungen. Ist die Sprachentwicklung Teil einer umfassenderen Entwicklungsstörung, kann auch ergänzend oder vorab eine ergotherapeutische Behandlung notwendig sein. Bei behinderten Kindern ist die logopädische Behandlung meist Teil der Frühförderung und wird im Rahmen des Förder- oder Behandlungsplanes im Behandlungsteam insgesamt abgestimmt.
Was ist Psychotherapie?
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut ist eine durch das Psychotherapeutengesetz gesetzlich geschützte Berufsbezeichnung, die eine staatliche Zulassung zur Ausübung der Heilkunde (Approbation) voraussetzt. Behandelt werden psychische Probleme nach akuten Belastungen oder nach unverarbeiteten Erlebnissen, Aufmerksamkeitsprobleme, Teilleistungsstörungen, Leistungsversagen und Verhaltensschwierigkeiten in der Schule, Entwicklungsauffälligkeiten in Motorik, Sprache, Sauberkeitserziehung und emotionaler Entwicklung, Sozialverhaltensschwierigkeiten, Auffälligkeiten in der sexuellen Entwicklung, Folgen von Misshandlung und Suchtprobleme. Ein Psychotherapeut unterstützt bei familiären Konflikten, bei Sorgerechts- und Umgangsregelungen, bei Fremdunterbringung und bei gerichtlichen Fragestellungen. Zum Einsatz kommen unter anderem Methoden aus dem Bereich der Verhaltenstherapie, der lösungsorientierten Kurzzeittherapie, der Spieltherapie, der Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalyse, der Familientherapie und der Systemischen Therapie.
Nicht ohne meine Eltern!
Egal, welche Förderung oder Therapie für das einzelne Kind die richtige ist – entscheidend für den Erfolg einer Maßnahme ist in den meisten Fällen die Einbeziehung der Eltern. In verschiedenen Studien wurde nachgewiesen, dass bei Kindern die Behandlungsergebnisse umso besser sind, je intensiver die Eltern einbezogen und geschult werden. Auch das psychosoziale Umfeld der Kinder entscheidet über den weiteren Weg. „Wir erleben viele Eltern, die vor dem Hintergrund sozialer Benachteiligung, mangelnder eigener Bildung und gesellschaftlicher Integration, aber auch aus ganz eigensüchtigen Motiven ihren Kindern nicht die erforderliche Förderung zukommen lassen“, erklärt Professor Bode und fordert daher den Aufbau eines flächendeckenden Netzes von kooperierenden Früherfassungssystemen mit Kinder- und Jugendärzten als koordinierenden Lotsen.