Gesundheit
Bettnässen
Katrin Gecht · 28.10.2015
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Sonne oder Wolken? Für Leo eine Frage, bei der es um mehr geht, als um die passenden Kleider für den Tag. Es geht darum, ob Leo nachts Pipi ins Bett gemacht hat oder nicht. Seit vier Wochen malt er seine „sonnigen“ und „wolkigen“ Nächte mit gelbem oder blauem Stift groß und sichtbar in den Familienkalender. In den letzten zwei Wochen gab es fast täglich eine Sonne, nur ein Mal kam der blaue Stift zum Einsatz. Seine Eltern fanden die Idee für den Kalender im Internet. Der Kinderarzt und auch Leos bester Freund ahnen nicht, dass er noch ins Bett macht.
Was Leos Eltern nicht wissen: So wie ihrem Sohn geht es vielen Kindern im Grundschulalter. Zehn Prozent der Siebenjährigen nässen nachts noch regelmäßig ein und sogar ein bis zwei Prozent der Jugendlichen sind betroffen. Spätestens zum Schul-eintritt bekommt die Thematik eine neue Tragweite. Nämlich dann, wenn die ersten Auswärts-Übernachtungen anstehen.
Ein Riesen-Tabu
In Deutschland sind schätzungsweise mehr als 640.000 Kinder zwischen fünf und zehn Jahren betroffen. Zwei Drittel davon sind Jungs. Dass die Dunkelziffer hoch ist, konnte die Initiative Trockene Nacht e.V. in einer aktuellen Studie zutage fördern. In Kooperation mit vier Gesundheitsämtern wurden bei Schuleignungstests von 13.400 Kindern die Eltern zur nächtlichen Trockenheit ihrer Kinder befragt. Interessantes Resultat: Die Frage „Nässt ihr Kind nachts noch ein?“ bejahten 7,65 Prozent der Eltern. Wurde die Frage „Wie häufig nässt ihr Kind nachts noch ein?“ gestellt, bestätigten 17,75 Prozent der Eltern, dass dies noch der Fall wäre.
„Das Thema ist ein Riesen-Tabu“, berichtet Gabriele Grünebaum, Geschäftsführerin der Initiative für trockene Nächte. Vor neun Jahren kam sie über ihren Neffen mit dem Thema in Berührung. Heute veranstaltet sie deutschlandweit Info-Abende für Eltern, Erzieher, Lehrer und Ärzte. „Wir machen Eltern klar, dass sie viel tun können. Zuallererst mit ihren Kindern reden und andere Menschen mit einbeziehen“, beschreibt sie die Kernpunkte ihrer Aufklärungsarbeit.
Schuldgefühle und die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt
Die Scham rühre laut Grünebaum daher, dass das Trockenwerden fälschlicherweise in den Köpfen eng mit dem Entwicklungsstand verknüpft sei. „Und keiner hört gerne, dass das eigene Kind in seiner Entwicklung verzögert ist“, erklärt sie. Zudem glaubten Eltern, sie seien mit der „Sauberkeitserziehung“ gescheitert. „Doch das Einnässen hat weder etwas mit Erziehungsfehlern noch mit einer Unsauberkeit des Kindes zu tun“, so Grünebaum.
Irgendwann gesellt sich zu den Schuldgefühlen die Frage, ob und wann es ratsam ist, mit dem Kind zum Arzt zu gehen. „Mindestens ein halbes Jahr vor der Einschulung macht es Sinn, nach den Gründen für das Einnässen zu schauen“, sagt Dr. med. Harms, Kölner Facharzt für Urologie und Mitglied der internationalen Gesellschaft für kindliche Harninkontinenz. Da die Kinder häufig unter den Folgen litten, sei es wichtig, nicht zu lange mit dem Arztbesuch zu warten, berichtet Harms.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft das nächtliche Einnässen als „behandlungsbedürftige Erkrankung“, medizinisch „Enuresis“ genannt, ein. Die liegt laut WHO dann vor, wenn ein Kind sein fünftes Lebensjahr vollendet hat und noch mindestens an zwei Nächten pro Monat einnässt. Unterschieden wird zwischen einer primären und sekundären Enuresis. Bei der primären Enuresis bestand seit der Geburt nachts keine längere trockene Phase. War ein Kind aber bereits sechs Monate nachts trocken und nässt erneut ein, spricht man von einer sekundären Enuresis. Letztere kann durch einschneidende Erlebnisse oder Stress ausgelöst werden.
„Beim Einnässen sind psychische Gründe eher seltener“, berichtet Dr. Harms aus seiner Praxis und meint damit die primäre Enuresis – die wesentlich häufigere Form des kindlichen Einnässens. Am häufigsten diagnostiziert er eine Reifeverzögerung. Während ein Baby seine Blase reflexartig entleere, reife bei dem Kind irgendwann die Fähigkeit heran, die Blasenentleerung zu kontrollieren. Wann dies passiert, ist allerdings von Kind zu Kind verschieden. In der Regel seien Kinder mit vier oder fünf Jahren in der Lage, nachts ihren Harndrang zurückzuhalten.
Nachts zu viel Urin
Als zweithäufigste Ursache stellt Dr. Harms bei seinen kleinen Patienten eine „überschießende nächtliche Urinproduktion“ fest. Und die sei dann gegeben, wenn die nächtliche Menge an Urin mehr als 30 Prozent der gesamten Tagesmenge ausmache. Normalerweise sorge ein Hormon namens ADH (Antidiuretisches Hormon) dafür, dass die Nieren in der Nacht weniger Urin produzierten. Bei bettnässenden Kindern würde zu wenig ADH gebildet und nachts zu viel Urin freigesetzt, so Harms. Auch ein besonders tiefer Schlaf könne das Bettnässen fördern. Zwar meldete die Blase, dass sie voll sei, die Kinder würden aber nicht wach. Eine familiäre Veranlagung begünstige das Bettnässen ebenfalls, berichtet Harms.
Regelmäßig Trinken und Pipi machen
„80 Prozent der Kinder trinken falsch und machen nicht richtig Pipi“, führt Gabriele Grünebaum an. Von den fehlenden Trinkpausen am Vormittag bis hin zum Unwillen, auf die dreckigen Klos in der Schule zu gehen, gäbe es vielfältige Gründe für das falsche Trink- und Wasserlassverhalten. In der Folge fingen die Kinder erst zu Hause an, „richtig“ zu trinken und aufs Klo zu gehen. Bis 17 Uhr sollten Kinder drei Viertel ihrer gesamten Tagesmenge an Flüssigkeit getrunken haben, rät Grünebaum deshalb. „Das alleine macht schon einen Großteil der Kinder trocken“, sagt sie.
Eltern könnten „Stellschrauben drehen“ und damit das Trockenwerden ihrer Kinder fördern. Damit meint Grünebaum beispielsweise Vereinbarungen über regelmäßige Trink- und Pipi-Pausen. Eine gefüllte Liter-Flasche, die bis zum Nachmittag ausgetrunken sein soll, und eine programmierte Armbanduhr mit Alarmfunktion hätten schon vielen Kindern dabei geholfen, einen besseren Trink- und Pipi-Rhythmus einzuhalten. Wenn solche Vereinbarungen glückten, könne das Kind auch belohnt werden. Ansonsten rät Grünebaum von Belohnungssystemen eher ab. Diese seien nur dann sinnvoll, wenn das Kind Einfluss auf sein Verhalten hätte. „Aber kein Kind nässt absichtlich ein“, so die Expertin.
„Nichts wäre schlimmer, als wenn die Eltern damit anfangen würden, sich selbst und dem Kind Vorwürfe zu machen. Im Umgang mit bettnässenden Kindern müssen Tadel und Strafe unbedingt vermieden werden“, heißt es auf dem Gesundheitsportal des Deutschen Grünen Kreuzes DGK. Weder eine Einschränkung der Trinkmenge am Abend noch das Wecken in der Nacht brächten den gewünschten Erfolg, seien aber weit verbreitete Methoden, erklärt das DKG. Auch Gabriele Grünebaum empfiehlt, Schimpfen oder Bestrafen gänzlich zu vermeiden. Eltern könnten ruhig offen zeigen, dass es viel Arbeit mache, die Betten zu beziehen, die Kinder aber nicht als Strafe zum Bettenmachen verdonnern. Stattdessen helfe es ihrer Ansicht nach, die Kinder partnerschaftlich einzubinden, nach dem Motto: Wenn wir es gemeinsam machen, ist es nur halb so viel Arbeit.
Was die von Wäschebergen geplagten Eltern und Kinder aber optimistisch stimmen kann: Oft verschwindet das „Problem“ von alleine: 15 Prozent der betroffenen Kinder werden jedes Jahr spontan trocken, ohne gezielte Maßnahmen.
Wenn es doch länger dauert
Lässt eine Spontanheilung auf sich warten und leiden Kind und Eltern unter den nassen Betten, ist der Arztbesuch der nächste Schritt. „Eine fundierte Diagnostik ist wichtig, um die genauen Ursachen herauszufinden und einen individuellen Therapieplan zu erstellen“, sagt Dr. Harms. Zunächst müssen hierfür Informationen über das Trink- und Wasserlass-Verhalten des Kindes her. Und die bekommt der Arzt über einen Miktionskalender, auch Pipi-Tagebuch genannt. Ist das Trink- und Wasserlassverhalten ursächlich, empfiehlt er eine Urotherapie. Durch die sollen die Trink- und Wasserlass-Gewohnheiten verändert werden. „Hier können wir häufig schon deutliche Verbesserungen erzielen“, so Harms.
Parallel dazu raten die Neurologen und Psychiater im Netz zu einem Sonne-Wolken-Kalender. Bei etwa einem Fünftel der betroffenen Kinder reichten diese Maßnahmen schon aus, um trocken zu werden, ist auf dem Portal zu lesen.
Klingelhose®, Medikament oder alternative Methoden
Wenn Dr. Harms bei seiner Untersuchung feststellt, dass die Blase seines Patienten ein zu geringes Fassungsvermögen hat, plädiert er für eine Alarmtherapie als geeignetes Therapiemittel. Gängig seien Klingelhosen®, die beim ersten Tropfen Pipi sofort Alarm auslösten. Ziel der Therapie ist eine Verhaltensänderung durch das Konditionieren des Kindes, das bei voller Blase aufgeweckt wird. „Bei dieser Methode ist die Mithilfe der Eltern sehr wichtig“, gibt Gabriele Grünebaum hierbei zu bedenken. Diese müssten anfangs mit aufstehen und das Kind unterstützen.
Liegt eine sogenannte Nächtliche Polyurie vor — also die erhöhte Urinproduktion in der Nacht, dann könne auch eine medikamentöse Therapie Sinn machen, meint Harms. Desmopressin heißt der Wirkstoff, der dafür sorgt, dass die Harnausscheidung nachts gedrosselt wird. Oft würde es als Mittel der Wahl gelten, wenn beispielsweise eine Klassenfahrt anstünde, so Harms. Aber es müsse innerhalb der Therapie richtig eingesetzt werden und könne dann hilfreich, „aber kein Garant dafür sein, dass das Kind auf einer Klassenfahrt trocken bliebe“, erklärt er.
Physiotherapeuten, Chiropraktiker oder Ostheopathen
So unterschiedlich die Ursachen, so vielseitig sind die Behandlungsmöglichkeiten einer Enuresis. Oft kann eine Kombination verschiedener Therapieansätze hilfreich sein. Urologe Harms hat zum Beispiel gute Erfahrungen mit einem speziell ausgebildeten Physiotherapeuten gemacht, viele Chiropraktiker oder auch Ostheopathen sind bestens mit der Symptomatik vertraut. Und auch Psychotherapeuten unterstützen Enuretiker mit Entspannungstechniken oder Fantasiereisen beim Trocken- werden.
Gabriele Grünebaums Neffen half damals eine Armbanduhr mit Alarmfunktion beim Erinnern ans regelmäßige Trinken und Pipimachen. Er wurde nach einigen Monaten trocken. Und Leo? Der darf nach einem Besuch beim Kinderarzt seinen Sonne-Wolken-Kalender weiterführen. Seine Eltern haben Tipps bekommen, wie sie ihn dabei unterstützen können, dass mehr Sonnen scheinen. Außerdem trägt er jetzt auch so eine schicke piepende Armbanduhr. Die hat übrigens seinem besten Freund ganz schön gut gefallen.
*Name von der Redaktion geändert