Gesellschaft
Großeltern auf Zeit — mehr als nur Betreuung
Lisa Böttcher · 14.04.2025
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Die Beziehung von Enkelkindern und Großeltern ist eine Win-Win-Situation © Halfpoint/Adobe Stock
Omas und Opas sind längst die stillen Held:innen im Alltag deutscher Familien. Eine Studie des BiBWiesbaden und DIW Berlin aus dem Jahr ergab, dass jedes zweite Kind unter sechs Jahren regelmäßig von den Großeltern betreut wird. Angesichts des massivenv Personalmangels in den Kitas, welcher zu regelmäßigen und kurzfristigen Schließungen führt, ist die Betreuung durch Großeltern besonders entscheidend. Dazu kommt, dass aufgrund steigender Lebenshaltungskosten häufig beide Elternteile arbeiten müssen.
Großeltern als Stütze der Gesellschaft
Die Bedeutung von Großeltern für Familien und die Gesellschaft wird auch dann deutlich, wenn man die Zahlen betrachtet. „Wir haben laut dem Deutschen Zentrum für Altersfragen ungefähr 20 Millionen Großeltern in Deutschland. Von denen haben zwischen 13 und 14 Millionen Enkelkinderunter 13 Jahren, die sie zwischen 450 und 500 Stunden pro Jahr betreuen“, berichtet der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Michael Obermaier von der Katholischen Hochschule NRW. „Das sind umgerechnet etwas weniger als 3 Milliarden Stunden pro Jahr und wenn wir da den Mindestlohn ansetzen, dann ist es ein Gesamtvolumenvon circa 34 Milliarden Euro im Jahr, was die Großeltern in Deutschland ihren Kindern an Care-Arbeit kostenfrei geben.“
Doch sind Großeltern viel mehr als eine simple Betreuungslösung und sollten auch so betrachtet werden. „Großeltern sind in der Regel näher dran als externe Betreuungspersonen“, erklärt Michael Obermaier. „Und sie ermöglichen vor allem jüngeren Kindern eine Verortung in dieser Welt, indem sie aufzeigen, wie es früher war. Sie sind eine Art historischer Ankerpunkt, der emotionale Stabilität mit sich bringt und Bindung über die Zeit hinweg ermöglicht.“
Oma auf Zeit
Dabei ist gar nicht selbstverständlich, dass die Großeltern immer zur Stelle sind. In manchen Familien leben Oma und Opa zu weit weg für regelmäßige Besuche oder sogar im Ausland. Manchmal sind die Großeltern auch schon verstorben oder der Kontakt ist abgebrochen. Der Familienkreis e. V. hat daher die Initiative „Großeltern auf Zeit“ ins Leben gerufen. Das Projekt bringt ehrenamtliche „Leihgroßeltern“ mit Familien zusammen, die Unterstützung brauchen.
Maggie Berntsen ist 72 Jahre alt, lebt in Bonn und ist Oma auf Zeit. Eigene Kinder hat die ehemalige Physiotherapeutin nicht. Kurz vor dem Eintritt in den Ruhestand las sie in der Zeitung vom Projekt des Familienkreises e. V. „Ich war nicht mehr in meinem Beruf, habe mich aber noch fit gefühlt“, erzählt Maggie. „Ich wollte gerne eine sinnvolle Aufgabe übernehmen.“ Es dauerte nicht lange, da sah Maggie sich den Bewerbungsmappen einiger Familien gegenüber. „Wir führen Vorgespräche mit den Ehrenamtlichen und den Familien“,erzählt Sabine Stötzner. Sie ist Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin und begleitet das Projekt beratend.„Dann gucken wir, wer zusammenpassen könnte.“ Bevor die Ehrenamtlichen ihre Aufgabe antreten, werden sie außerdem entsprechend geschult und vorbereitet.
„Großväter sind die obersten Gewinner“
„Bei mir ging damals alles sehr schnell“, erzählt Maggie. Es ist bereits neun Jahre her, dass sie ihr Ehrenamt angetreten hat. Ihre Patenfamilie bestand aus einer alleinerziehenden dreifachen Mutter, die sich im Studium befand. Die Kinder waren damals zehn und zwei Jahre alt, das jüngste gerade erst geboren. Als die Mutter mit dem Neugeborenen plötzlich für vier Wochen ins Krankenhaus musste, blieb die älteste Tochter bei den leiblichen Großeltern. Der kleine Junge hingegen kam bei Maggie und ihrem Mann Roland unter – einen ganzen Monat lang.
„Mein Mann hatte eigentlich nie viel mit Kindern zu tun“, erinnert sich die Rentnerin. „Damals wurden wir dann mit der Situation konfrontiert.“ Roland wuchs in seine Rolle hinein. „Das war eine sehr schöne Entwicklung“, erzähltMaggie. Heute ist er genauso selbstverständlich für die mittlerweile neun Jahre älteren Kinder da wie seine Frau. Die Entwicklung hin zu einer offeneren Gesellschaft komme vor allem den Großvätern zugute, findet auch Michael Obermeier. Es sei einfacher geworden, Emotionen offen zu zeigen – auch als Mann oder als ältere Person. „Ich würde sogar sagen, dass die Großväter die obersten Gewinner dieses Trends sind“, so der Erziehungswissenschaftler. „In der Generation, über die wir sprechen, gab es ein klares Rollenverständnis, weshalb Männer vor allem die frühen Jahre der Kinder nicht so miterleben konnten. Und das holen sie jetzt nach.“
Eine Win-Win-Situation
Maggie und Roland fanden sich schnell in ihren neuen Rollen ein. „Die Kinder gewinnen feste Bezugspersonen dazu“, erzählt Anja Henkel, Geschäftsführerin des Familienkreis e. V. „Das ist ja keine einfache Kinderaufsicht. Da entwickelt sich eine Beziehung. Man isst zusammen, redet, lacht, spielt und streitet.“ Das erweitere zum einen den Horizont der Kinder, denn diese lernen so auch Abläufe außerhalb des eigenen Elternhauses kennen. Aber auch die Ehrenamtlichen nehmen viel mit.
Die Freude, die die Kinder einem vermitteln, sei offen und ehrlich, erzählt Maggie. Mit der Zeit hätten sie eigene Routinen und Traditionen entwickelt. Das Miteinander sei selbstverständlich geworden und die Kinder zeigten, wie sehr sie diese Selbstverständlichkeit genießen. „Ich habe mein Leben lang dasselbe gemacht“, erklärt die 72-Jährige.„Es ist schön, sich im Alter noch mal neu zu erfahren.“ Auch Michael Obermaier ist überzeugt, dass die Beziehung von Enkelkindern und Großeltern eine Win-Win-Situation ist. Da Menschen heutzutage später altern und länger leben, dehne sich die Betreuungszeit durch die Großeltern aus. „Dieser Rollenwandel hin zu aktiven jungen Omas und Opas birgt viel Potenzial, sich mit den Enkelkindern zu vernetzen. Auch auf digitaler Ebene“, erklärt der Erziehungswissenschaftler.
„Man muss tolerant sein“
Trotz all der Freude – Großeltern, ob leiblich oder nicht, tragen viel Verantwortung und investieren Zeit und Energiein ihre Enkelkinder. Daher ist es wichtig, die Bedürfnisse aller im Blick zu behalten. „Man muss tolerant sein“, rät Maggie. Die Erziehungsvorstellungen unterscheiden sich manchmal, immerhin handelt es sich um verschiedene Generationen. Außerdem sollten Eltern nicht vergessen, dass sich zwischen Enkelkindern und Großeltern eine eigene Dynamik entwickelt, die ebenso ihre Daseinsberechtigung hat. „Aber auch Großeltern müssen erkennen, dass die Eltern wissen, was gut für ihr Kind ist“, ergänzt Familienkreis-Geschäftsführerin Anja Henkel.
Wenn es doch mal zu Unstimmigkeiten kommt, hilft reden. „Am besten sucht man sich dafür einen Augenblick, in dem man psycho-emotional nicht so geladen ist“, rät Michael Obermaier. „Man sollte bei seinem eigenen Standpunkt bleiben, Ich-Botschaften senden und sich eine gemeinsame, konstruktive Lösung wünschen.“ Bei diesem Prozess unterstützt auch der Familienkreis die Ehrenamtlichen. „Das Familienleben ist heutzutage ein Marathon“, sagt Erziehungswissenschaftlerin Sabine Stötzner. „Eines der häufigsten Konfliktthemen ist, dass Grenzen gesetzt werden müssen, wenn die Betreuung zu viel wird.“
Ein Geben und Nehmen
Auch Wertschätzung und Freiraum seien wichtig. „Ich möchte meine Urlaube und Freizeit selbst planen können“, erklärt Maggie. „Außerdem unternehme ich mit den Kindern meistens das, was auch mir selbst Spaß macht. Wir gehen viel in den Wald, weil ich gerne dort bin.“ Ihrer Beobachtung zufolge brauchen Kinder gar nicht viel Programm,s ondern vor allem Freiraum. Kinder hätten heutzutage ohne hineinen vollen Terminkalender, findet auch Anja Henkel. „Erwachsene, die einfach Zeit für sie haben, sind ein großer Gewinn.“
Insgesamt sollten Geben und Nehmen in diesem fragilen Beziehungssystem ausgeglichen sein, so Anja Henkel. Dann funktioniere auch die Familiendynamik. „Wir bekommen sehr positive Rückmeldungen von den Familien. Sie sind unglaublich dankbar für die Unterstützung. Und die Ehrenamtlichen berichten von dem wunderbaren Gefühl, gebraucht zu werden.“ Manchmal entstehen daraus sogar langjährige Freundschaften.
Service
Das „Großeltern auf Zeit“-Projekt des Familienkreis e.V. ist darauf ausgelegt, Menschen im (Vor-)Ruhestand und Bonner Familien langfristig zusammenzubringen. Es soll beidseitig bereichern und Bindungen entstehen lassen. Das Angebot zählt heute 40 aktive ehrenamtliche Großeltern. „Wenn Familie nicht so stattfinden kann, wie man sich das wünscht, kann man auch andere Bezugspersonen finden“, sagt Geschäftsführerin Anja Henkel. Man könne sich zum Beispiel in der Nachbarschaft umschauen und neue Konstellationen selbst herstellen. Aber auch der Familienkreis ist immer auf der Suche nach Interessierten, die ein Ehrenamt im Projekt übernehmen möchten.
Der Sozialdienst katholischer Frauen e.V. in Köln organisiert ein ähnliches Projekt mit dem Namen„Laura und Laurenz“. Der Verein berät Eltern, Kinder und interessierte Ehrenamtliche bei Fragen rund um eine Familienpatenschaft oder eine Ersatzgroßelternschaft.
Die Familienbildungseinrichtung Tante Astrid e.V. bietet sogar sogenannte „Wunschgroßeltern-Kurse“, in denen intergenerationelle Familiendynamiken vermittelt werden. Ziel der Kurse ist außerdem, eine Plattform zu schaffen, auf der Familien und Senior:innen sich vernetzen können.