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Bildung

Ein Plädoyer fürs Vorlesen

Christina Bacher · 05.10.2020

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© Adobe Stock/Maria Sbytova

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Lesen beginnt mit Vorlesen. Und tatsächlich genießen Kinder den Ausflug in neue Gedankenwelten so sehr, dass sie den Büchern gerne einen Platz in ihrem Alltag einräumen – vorausgesetzt, es hilft ihnen jemand dabei. Dass Kinder, denen mehrmals in der Woche oder täglich vorgelesen wurde, auch das Lesen lernen leichter fällt, muss da nicht extra betont werden.

Dabei haben das Eintauchen in Geschichten, die vertraute Situation – zumeist in den Abendstunden – mit einem Elternteil und der haptische Kontakt zu Büchern noch viele andere wichtige Funktionen: Vorlesen bietet Kindern die wichtige Möglichkeit, sich in andere Welten zu denken und sich inspirieren zu lassen, aber auch sich aufgehoben zu fühlen oder zur Ruhe zu kommen. Die Kinderbuchautorin Christina Bacher gibt einige wichtige Tipps, wie man das Vorlesen besser im Alltag integrieren kann.

Es sei zu Beginn ein bisschen Schwarzmalerei erlaubt, bevor der Lobgesang auf die schönste Kulturtechnik der Welt angestimmt werden soll, denn das (Vor)Lesen ist seit einigen Jahren massiv in seiner Existenz bedroht. Dass heute weniger gelesen wird als noch vor ein paar Jahren, ist nicht nur schade für die Autor*innen, die so wunderbare Ideen für neue Bücher haben und für die Buchhändler*innen, die auch in Zukunft Bücher verkaufen wollen. Nein, diese Tendenz ist vor allem dramatisch für Kinder und Jugendliche selbst, denn das Nicht-Lesen kann fatale Folgen haben.

So wurde in der letzten Iglu-Studie festgestellt, dass fast 20 Prozent der Grundschüler nicht mehr sinnentnehmend lesen können. Das heißt, sie buchstabieren einen Text zwar, verstehen ihn aber nicht. Die jüngste Pisa-Studie spricht sogar von 21 Prozent der 15jährigen hierzulande, die kaum noch zusammenhängende Texte begreifen können und sich somit auch für Ausbildung und Berufswahl selbst Steine in den Weg legen: Wer nicht liest, kann sich schlechter auszudrücken, ist weniger gebildet, vermindert urteilsfähig und hat häufig Probleme, sich eine Meinung zu bilden. Was das allgemein für demokratische Prozesse bedeutet, kann man sich ausmalen. Das führt hier zu weit.

Sie buchstabieren den Text, verstehen aber den Inhalt nicht

Dabei liegt es wohl weniger an der mangelnden Lesefähigkeit als an einer fehlenden Lesemotivation, dass junge Leute weniger zum Buch greifen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer: Die Nutzung von Zeitschriften und Comics ist bei den sechs bis 13-jährigen sogar in den letzten Jahren angestiegen, wie die Kinder-Medien-Studie 2019 herausgefunden hat. Und: Lesen gehört – zumindest noch in dieser jüngeren Zielgruppe – immer noch zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen.

Je früher man die Begeisterung für das Lesen entfachen kann und je selbstverständlicher Bücher zum Alltag gehören, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, die Kulturtechnik Lesen als selbstverständlich zu etablieren. Und da Lesen immer mit Vorlesen beginnt, sind zunächst all diejenigen gefordert, die diese Rolle einnehmen können: Großeltern, Erzieher*innen, Eltern, Geschwister oder auch sogenannte Lesepat*innen.

Die Stiftung Lesen weist immer wieder gerne darauf hin, dass es neben dem klassischen Vorlesen aus einem Buch auch noch andere Formen gibt, die dem Vorlesen ganz ähnlich sind: Das Erzählen von Geschichten beispielsweise, das gemeinsame Erörtern eines Fotoalbums oder eben auch das Anschauen eines Bilderbuchs – alles gut, um im Alltag auf vielfältige Weise sprachliche Anreize zu setzen. Wie macht man es am besten, dass das allen Beteiligten Spaß macht und nicht mit einem abschreckenden pädagogischen Zeigefinger daher kommt?

Leserituale schaffen

Ob in der Kita, im Kindergarten oder zu Hause: Kinder schätzen es besonders, wenn eine Lesezeit immer mit dem gleichen Ritual beginnt. Ob man nun eine Kerze anzündet, um ein wenig Ruhe in die Situation zu bringen, oder eine Tasse Lieblings-Tee kredenzt oder immer ein ganz bestimmtes Stofftier (ein Lesebär?) dafür herhalten muss – ein Signal reicht dann, um sich in der gemütlichen Leseecke zu versammeln und der Außenwelt zu signalisieren: Pssst. Ruhe. Hier wird gerade vorgelesen.

Leseorte festlegen

Apropos Lesecke: Wetten, dass man selbst in der kleinsten Wohnung eine gemütliche Lese-Oase gestalten kann? Habt ihr mal daran gedacht, mit allen zur Verfügung stehenden Kissen und einer Taschenlampe unter dem Küchentisch eine gemütliche Höhle zu bauen? Oder die Badewanne zur Lesewanne umzufunktionieren? Luxuriöser sind da natürlich Baumhäuser, Hängematten oder Lesezelte im Garten. Der Kreativität, Kindern einen Raum zu schaffen, an den sie sich auch mal zum „stillen Lesen“ zurückziehen können, sind kaum Grenzen gesetzt. Und wenn sich die Familie jeden Abend zum Vorlesen doch im Bett versammelt, kann ja auch mal eine Lesedecke oder das immer gleiche Kissen herhalten – Hauptsache jede*r hat gute Sicht aufs Buch.

Vorlesekompetenz schulen

Derjenige, der ein Buch vorliest, sollte die Geschichte im Idealfall schon vorher kennen. Das garantiert jedenfalls, dass man die Sätze gut betont und sich besser auf den Inhalt konzentrieren kann. Je langsamer man dann liest und je mehr Sinnpausen man macht, desto mehr Raum hat der kleine Zuhörer Nachfragen zu stellen oder auch mal selbst einen Einwand zu äußern.

Wer Spaß daran findet, kann die Lesesituation auch mal versuchen spielerisch umzusetzen: Wie wäre es, die einzelnen Figuren – beispielsweise aus einem Wimmelbuch – vorher aus dem Buch zu kopieren und in verschiedene Umschläge zu stecken? Das Kind darf dann einen Umschlag ziehen und verfolgt sicher neugierig die Erlebnisse einer einzigen Figur. Am nächsten Tag ist dann ein anderer Umschlag dran.

Auch eine schöne Idee ist der Lesekoffer, den man immer dann öffnet, wenn es ans Lesen geht. Darin enthalten sind Stofftiere, Verkleidungsmaterial oder auch Alltagsgegenstände, mit denen alle gemeinsam eine Situation nachspielen können – manchmal wird daraus sogar ein kleines Theaterstück.

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Dialog statt Monolog

Um die Sprachentwicklung optimal zu fördern, empfiehlt es sich, mit dem Kind immer wieder über die gemeinsame Lektüre zu sprechen. Alle Beteiligten befinden sich dabei in permanenter Interaktion – das geht weit über die klassische Vorlesesituation hinaus. „Na, wer findet das traurige Krokodil als Erster?“ Und überhaupt: „Warum ist das Krokodil denn so traurig?“ Wichtig dabei ist, dass das Kind zum Erzählenden der Handlung wird. Das sogenannte „dialogische Prinzip“ wird auch gerne bei Kindern angewandt, bei denen man gewissen Sprachdefiziten entgegen wirken möchte – mit besonders gutem Erfolg.

Vertrauen schaffen

Dass eine regelmäßige Vorlesesituation eine ganz besondere Nähe zwischen Vorlesendem und Kind herstellt, ist eigentlich selbstverständlich. Dennoch wurde diese Art von Komplizenschaft lange unterschätzt. Eng aneinander gekuschelt kann man nun gemeinsam in phantastischen Welten versinken, einen Kriminalfall aufklären oder Abenteuer nachfiebern. Sieht auch der Erwachsene diese Zeit als wertvolle gemeinsame Auszeit an und nicht als Stress, können beide Seiten von der Situation profitieren. Eine Studie des Fachmagazins „Journal of Development & Behavioural Pediatrics“ aus dem Jahr 2019 kommt sogar zu dem Schluss: Vorlesende Eltern sind oft entspannte Eltern. Zugleich fallen die Vorlese-Kinder angeblich seltener durch Hyperaktivität und aggressives Verhalten auf – eine Win-Win-Situation also.

„Nur noch eine Seite“

Auch die schönste Lesesituation muss mal ein Ende haben. Am besten vereinbart man vorher gemeinsam die Seitenzahl, einen Schlusssatz oder bis zu welchem Kapitel man lesen möchte. Hat man einen Lesekoffer, wird der dann gemeinsam wieder gepackt und zugeklappt, die Kerze wird ausgeblasen, der Tee ausgetrunken. Wie? Es gibt dann immer noch Protest? Na, dann hat man ja eigentlich alles richtig gemacht. Sicher hilft es dem Kind zu wissen, dass es am nächsten Abend wieder eine Spezial-Lese-Einheit samt Kuschelrunde bekommt.

Und an manchen Tagen – zum Beispiel, wenn mal besonderes Lob ansteht – verschenkt man einfach mal einen Lese-Gutschein: Mit dem darf das Kind das Buch aussuchen, auch, wenn es sich um die Lieblingsgeschichte handelt, die man schon hundert Mal vorgelesen hat. Manche Bücher - das weiß man ja aus eigener Erfahrung - graben sich so für immer in das Gedächtnis ein und erinnern einen an einen bestimmten Geruch, eine besonders schöne Situation oder eben an einen besonders lieben Menschen, der sich die Zeit genommen hat, etwas vorzulesen.

Checkliste:

  • Leserituale schaffen (Kerze, Glocke, Kissen)
  • Leseorte festlegen (Bett, Sofa, Baumhaus, Tisch)
  • Mini-Bibliothek anlegen (jedes Kind hat sein eigenes Regal)
  • Leserucksack anschaffen (hier darf immer nur ein Buch rein, z.B. für die Reise)
  • Sich in die Geschichte einlesen (wenn es geht) Fragen überlegen (um das dialogische Prinzip zu fördern)
  • Lesekoffer packen (um die Geschichte spielerisch darstellen zu können)
  • Handys und Laptops ausschalten (Auszeit genießen)
  • Lesegutscheine verschenken
  • Schlusssatz vereinbaren

Christina Bacher, selbst Mutter von zwei Kindern, schreibt Kinder- und Jugendbücher und liest daraus an Kindergärten, Grundschulen und weiterführenden Schulen vor. Die Leseförderung liegt ihr sehr am Herzen, weshalb sie mit der Kölner Buchhändlerin Dorothee Junck den Vortrag „Nur noch eine Seite – Ein Abend rund ums Vorlesen“ für Eltern, Erzieher*innen und andere Vertrauenspersonen konzipiert hat. Dabei werden Tipps und Tricks und Bücher gezeigt, die das Vorlesen für beide Seiten – Vorlesenden und Zuhörenden – zu einem tollen Erlebnis werden lassen.

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