Teenager
„Wir stehen vor einer Bildungskatastrophe“
Ursula Katthöfer · 19.05.2021
zurück zur ÜbersichtWer kommt klar und wer hat das Nachsehen in der Pandemie? © sebra
KÄNGURU PLUS: Sie schreiben, dass es nicht reicht, digitale Lernplattformen auszubauen und alle Schüler:innen mit Laptops auszustatten. Warum nicht?
Prof. Dr. Klaus Zierer: Allein das digitale Aufrüsten der Kinderzimmer garantiert weder Lernerfolg noch hohe Unterrichtsqualität. Die digitale Technik muss vielmehr zum Leben erweckt werden – und zwar durch hohe Lehrerprofessionalität. Gerade diese muss in Krisenzeiten gefördert werden.
Lehrer:innen sind alle pädagogisch ausgebildet. Warum ist es für sie so schwierig, digital zu unterrichten?
Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Lehrpersonen das bisher nie gemacht haben, zumindest nicht in der Art und Weise, wie es derzeit nötig ist. Es gibt also zweifelsfrei etwas aufzuholen bei der Digitalisierung. Wichtiger ist jedoch, dass Unterricht Beziehungsarbeit ist. Wir sind soziale Wesen. Studien weisen nach, dass Menschen aufmerksamer sind, wenn sie sich gemeinsam in einem Raum befinden. Das lässt sich digital schwer abbilden.
Dennoch vermitteln viele Lehrer:innen und Schulleitungen den Eindruck, den Distanzunterricht sehr ernst zu nehmen.
Wir haben es mit zwei Extremen zu tun: Im ersten Lockdown tauchten viele Lehrpersonen völlig unter. Im zweiten Lockdown schlägt das Pendel nun vielerorts in die andere Richtung: Lehrpersonen fesseln Kinder sechs Stunden vor dem Bildschirm. Besser wären 20 Minuten Input, dann eine Phase, in der die Schüler:innen allein arbeiten, anschließend ein Dialog, in dem Lernende Fragen stellen können. Einsatz alleine reicht also nicht.
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Was bedeutet das alles für die Schüler:innen? Wer kommt klar, wer hat das Nachsehen?
Das Kernproblem ist, dass die Bildungsungerechtigkeit noch größer wird, als sie es in Deutschland ohnehin schon ist. Kinder aus bildungsnahen Milieus kommen besser durch die Krise. Die Pandemie wird also zum Treiber. Zudem zeigt sich aber auch insgesamt: Das Leistungsniveau der Lernenden ist rückläufig, Kinder können sich schwerer zum Lernen motivieren. Wir stehen vor einer Bildungskatastrophe.
Ließe die Bildungskatastrophe sich noch verhindern?
Wir reden derzeit viel über FFP2-Masken im Unterricht. Derweil ist es höchste Zeit für einen pädagogischen Masterplan: Es müssten Lehrpläne entrümpelt und didaktisch so gestaltet werden, dass Lehrpersonen sich gut unterstützt fühlen. Dabei könnte zum Beispiel das Schulfernsehen helfen. Für jede Klassenstufe könnten die besten Lehrpersonen Unterricht nach einem Krisenstundenplan geben. Den übrigen bliebe Zeit für individuelle Gespräche mit den Lernenden. In Formaten wie der Sommerschule könnte man sich zudem darauf konzentrieren, Kinder mit zusätzlichem Lernbedarf beim Übergang von einem Schuljahr in das nächste zu unterstützen.
Was können Eltern während der Phasen des Homeschoolings tun, um ihre Kinder zu unterstützen?
Manche Familien haben aus beruflichen oder sozialen Gründen oder wegen des eigenen Bildungsniveaus keine Möglichkeiten, ihren Kindern zu helfen. Doch wer Zeit und Kapazitäten hat, sollte den Tag für seine Kinder gut strukturieren, mit ihnen über das Lernen reden und kontrollieren, ob die Aufgaben gemacht werden – wenn die Schule das nicht tut. Aber: Homeschooling ist im Kern Aufgabe der Schule, nicht der Eltern. Auch Sport, Musik und Kunst wurden während der Pandemie auf Null gefahren. Wenn Eltern die Zeit haben, können sie ihre Kinder dazu motivieren.
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Das hört sich alles nicht so an, als könne es eine digitale Bildungsrevolution geben.
Nein, die kann es nicht geben. Denn Bildung setzt beim Menschen an. Wir brauchen eine humane Bildungsrevolution im Zeitalter der Digitalisierung. Dabei sollten digitale Medien so eingesetzt werden, dass sie dem Menschen und seinen Bedürfnissen gerecht werden. Wir müssen die Technik nutzen, um den Lernstand sichtbar zu machen und in den Austausch zu kommen. Doch Bildungsrevolution heißt immer, den Menschen ins Zentrum zu rücken.
Vielen Dank!
Der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Klaus Zierer ist Vater von drei Kindern, war Grundschullehrer und lehrt heute Schulpädagogik an der Universität Augsburg.