Gesundheit
Diagnose Legasthenie
Nicole Wickendick · 10.01.2023
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KÄNGURU: Was ist Legasthenie und welche typischen Fehler machen Legastheniker:innen?
Annette Höinghaus: Menschen mit Legasthenie haben ausgeprägte Probleme beim Lesen und Rechtschreiben. Betroffene Kinder oder auch Erwachsene haben Schwierigkeiten, zusammenhängend zu lesen, das heißt aus Buchstaben Silben zu bilden oder aus Silben Wörter. Sie lesen stockend und sehr verlangsamt und verstehen durch die Schwierigkeiten beim Lesen den Sinn oftmals nicht. Kinder mit Legasthenie können zwar schreiben, machen aber viel mehr Fehler als andere Kinder. Interessanterweise schreiben sie gleiche Wörter immer unterschiedlich falsch, weil sie die Wörter nicht als Wortbild abspeichern können.
Was ist der Unterschied zwischen Legasthenie und einer Lese-Rechtschreibschwäche?
Man wirft eigentlich alles immer zusammen in einen Topf. Der Begriff Legasthenie kann auch Menschen mit einer Lese-Rechtschreibschwäche umfassen. Er wird synonym für alle Formen verwendet, bei denen Menschen Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben haben. Der medizinische Begriff für Legasthenie ist die Lese-Rechtschreibstörung. Für die Diagnose Lese-Rechtschreibstörung muss ausgeschlossen werden, dass die Probleme beim Lesen und Rechtschreiben (nur) durch äußere Umstände (schlechte Beschulung, längere Fehlzeit in der Schule, Migrationshintergrund) oder durch eine Seh- oder Hörschwäche entstanden sind. Bei Menschen mit Legasthenie liegt eine genetische Veränderung vor, die Auswirkungen auf das Sprachzentrum hat, durch die langanhaltende Probleme beim Lesen und Rechtschreiben entstehen und die bis ins Erwachsenenalter reichen können. Es gibt auch eine isolierte Lese- oder Rechtschreibstörung. Das heißt, jemand mit einer Legasthenie muss nicht zwingend in beiden Bereichen Schwierigkeiten haben. Auch die Ausprägungen können ganz unterschiedlich sein.
Haben Legastheniker:innen auch typische Stärken?
Menschen mit einer Legasthenie haben die gleichen Begabungsstrukturen und Stärken wie andere Menschen auch. Aber sie suchen sich oft Bereiche, in denen sie ungehindert ihre individuellen Stärken entfalten können. Häufig sind sie im sportlichen, technischen oder musischen Bereich sehr aktiv, weil die Legasthenie sie dort nicht beeinträchtigt und sie ungehindert ihr Leistungsspektrum zeigen können.
Wo kann ich mein Kind testen lassen?
Eine gute Diagnostik ist erst Ende der 1. bzw. Mitte der 2. Klasse möglich, wenn die Kinder schon eine gewisse Lese- und Schreibkompetenz erworben haben. Zuvor sollte eine Seh- oder Hörschwäche ausgeschlossen werden. Die Diagnostik erfolgt bei Kinder- und Jugendpsychiater:innen oder in einem sozialpädriatrischen Zentrum. Bei der multiachsialen Diagnostik wird das soziale Umfeld der Kinder mit einbezogen. Und es wird geprüft, ob zum Beispiel eine Aufmerksamkeitsstörung oder Hyperaktivität vorliegt. Anschließend wird anhand von standardisierten Testverfahren geschaut, inwieweit die Lese- und Rechtschreibkompetenz zur Altersnorm und Klassenstufe passt. Auch eine Intelligenzdiagnostik wird durchgeführt, was allerdings nicht bedeutet, dass Kinder mit einer Legasthenie eine geringere Intelligenz haben. Die Diagnose Legasthenie darf nur gestellt werden, wenn die Kinder in einem normalen Intelligenzbereich liegen. Sonst könnten die Probleme auch durch eine Minderbegabung entstanden sein.
Kann Legasthenie geheilt werden?
Von Heilung kann man nicht sprechen, da es sich um eine genetische Veränderung handelt, die nicht geheilt werden kann. Aber die Kinder können durch eine gute Förderung so unterstützt werden, dass sie sehr viel kompensieren können. Hier hilft eine ganz gezielte individuelle Förderung mit einer strukturierten Herangehensweise. Es gibt Förderprogramme, die speziell für Kinder mit einer Legasthenie entwickelt wurden. Und an der weiterführenden Schule können beispielsweise auch technische Hilfsmittel wie eine Vorlesesoftware, die Rechtschreibkorrektur am PC oder Spracherkennungsprogramme zur Aufzeichnung eines Textes eingesetzt werden. Außerdem können Eltern für ihre Kinder einen Nachteilsausgleich beantragen. Das kann bedeuten, dass Kindern in der Grundschule die Aufgabenstellung zur Prüfung noch vorgelesen wird oder sie eher mündlich als schriftlich geprüft werden. An der weiterführenden Schule dürfen sie beispielsweise technische Hilfsmittel benutzen oder bekommen mehr Zeit.
Wo finden betroffene Kinder und Familien Hilfe?
Leider gibt es kein anerkanntes Berufsbild für Lerntherapeut:innen, da der Begriff nicht geschützt ist und es keine Vorgaben zur Qualifizierung gibt. Das macht es natürlich besonders schwierig für Eltern. Der Bundesverband hat bereits 2005 damit begonnen, Weiterbildungsstandards zu entwickeln, in denen die wissenschaftlichen Erkenntnisse und gut evaluierte Förderansätze verankert sind. Es gibt zertifizierte Therapeut:innen, die über die jeweilige Weiterbildungseinrichtung in unserem Namen zertifiziert werden. Liegt dieses Qualitätssiegel nicht vor, ist es wichtig zu fragen, wie die Therapeut:innen sich weitergebildet haben. Es gibt auch Logopäd:innen, die eine zusätzliche Weiterbildung absolviert haben und Therapien für Kinder mit Legasthenie anbieten. Auch der richtige Förderansatz spielt eine wichtige Rolle. Bei der Suche nach geeigneten Therapeut:innen können die Landesverbände für Legasthenie und Dyskalkulie helfen.
Werden die Therapiekosten von der Krankenkasse übernommen?
Die Krankenkassen zahlen zwar die Diagnostik, nicht aber die Kosten für die Therapie. Da es kein anerkanntes Berufsbild gibt, können die Kinder- und Jugendpsychiater:innen oder Kinder- und Jugendärzt:innen keine Verordnung zur Legasthenieförderung ausstellen. Eltern können die Therapie daher nur auf Selbstzahlerbasis finanzieren. Es gibt noch einen anderen Weg über das Jugendamt über den § 35a SGB VIII, die sogenannte Eingliederungshilfe. Um die Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen zu können, muss ein:e Kinder- und Jugendpsychiater:in vorab diagnostizieren, dass bei dem Kind bereits eine seelische Beeinträchtigung vorliegt oder androht. Wir finden es ausgesprochen verantwortungslos, dass das Kind erst in ein seelisches Tief gefallen sein muss, bevor es Hilfe über das Jugendamt bekommt. Dadurch lässt man die Familien und Kinder komplett allein. Die Kinder bekommen zwar eine Diagnose, aber was passiert dann?
Also gibt es da eine riesige Lücke?
So ist das. Die meisten Lehrkräfte sind nicht ausgebildet, Schüler:innen mit einer Legasthenie qualifiziert zu fördern, es sei denn, sie wurden weiterqualifiziert. Die Eltern haben zunächst auch keine Idee, wie sie häuslich gut unterstützen können. 40% der Kinder mit Legasthenie entwickeln psychosomatische Folgeerkrankungen, zum Beispiel Angststörungen, Magenprobleme, Vermeidungsstrategien oder auch komplette Schulverweigerung. Oftmals muss das Kind eine Psychotherapie machen, weil es gar nicht mehr beschult werden kann. Auch deswegen finden wir es so wichtig, dass die Probleme frühzeitig erkannt und diagnostiziert werden. Die Diagnose zu haben, ist für Eltern und Kinder eine große Entlastung. Die Kinder leiden sonst oft unter dem Stigma, dumm oder faul zu sein.
Wie können Eltern ihrem Kind helfen?
Eltern können ihr Kind gut bei der Leseförderung unterstützen, indem sie mit dem Kind Bücher auswählen, die in Großschrift gedruckt sind (mindestens 14 Pt.) und sich beim Lesen mit dem Kind abwechseln. Das Kind liest zu Anfang nur ein oder zwei Sätze und die Eltern einen größeren Anteil. So kann das Kind Spaß am Lesen entwickeln und auch den Zusammenhang der Geschichte erfassen. Außerdem ist es wichtig, dass Eltern gerade bei Kindern mit einer Legasthenie sehr genau beobachten, welche Stärken und Interessen das Kind hat und diese Stärken auch gezielt fördern. Außerschulische Erfolgserlebnisse haben für Kinder mit Legasthenie eine enorm große Bedeutung. Auch für schulische Fortschritte sollte das Kind gelobt werden, selbst wenn die Entwicklungsschritte nur langsam erfolgen und sich nicht unbedingt sofort in der Note widerspiegeln.
Ist es denn möglich, mit Legasthenie Abitur zu machen?
Ja, ohne Probleme. Auch ein Studium ist möglich. Bei entsprechenden Rahmenbedingungen wie Nachtteilsausgleich und einer adäquaten Förderung in der Schule, haben die Kinder gute Perspektiven. Sie kommen wirklich gut durchs Leben und sind später auch erfolgreich im Beruf. Seit wir einen so großen Fachkräftemangel haben, fällt auf, dass auch Ausbildungsbetriebe sich für Schüler:innen mit Legasthenie interessieren. Es öffnen sich jetzt mehr Türen. Früher wurden Menschen mit einer Legasthenie eher aussortiert oder kamen in Berufe, die nicht ihrer Qualifikation entsprochen haben. Das ändert sich glücklicherweise zunehmend.
© BVL
Annette Höinghaus arbeitet beim Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie e.V. (BVL). Dieser setzt sich für mehr Chancengleichheit der betroffenen Kinder und Jugendlichen ein. Der Verband bietet schon seit über 45 Jahren Hilfsangebote an und sorgt für bessere Rahmenbedingungen in Institutionen für Menschen mit Legasthenie. Darüber hinaus leistet der BVL Öffentlichkeitsarbeit, um die Toleranz und Akzeptanz für Legastheniker:innen zu erhöhen.
Tipps und Hilfen für Eltern und Betroffene: