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Gesellschaft

„Selbstmitgefühl hilft Eltern jetzt weiter“

Dr. Julia Fellmer · 08.03.2021

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© Silke Speckenmeyer

© Silke Speckenmeyer

Wir fragen Menschen, die mit Kindern leben und arbeiten nach ihrer Meinung. Ein Jahr Corona hat uns alle ganz schön mitgenommen. Wie verarbeiten wir diese Situation als Gesellschaft? Welche Folgen hat Corona für die Entwicklung unserer Kinder? Was tut Familien jetzt gut? Und was können sie so gar nicht gebrauchen? Die Allgemeinmedizinerin und Schulärztin Dr. Julia Fellmer hat Antworten für uns.

Um zu verstehen, was uns Eltern in der aktuellen Krise helfen kann, Stress zu bewältigen und gut für uns zu sorgen (damit es uns gut geht UND damit wir weiter gut für unsere Kinder sorgen können), möchte ich ein anschauliches vereinfachtes Modell erklären, wie Stress auf körperlicher und emotionaler Ebene funktioniert:

Über Millionen von Jahren hat sich beim Menschen ein Gehirn und vegetatives Nervensystem ausgebildet, das stark darauf fokussiert ist Gefahr, Bedrohung, Risiken und Mangel zu vermeiden und so unser physisches Überleben zu sichern. Die Regel lautete „Hast Du was zu essen oder wirst Du gefressen?“ In dieser Lebenswelt, die uns so lange geprägt hat, hatte es Vorteile, das Negative stärker zu gewichten, denn allein das brachte einen Überlebensvorteil.  Unser Gehirn ist „wie Klettband für negative Erfahrungen und wie Teflon für positive“ (Rick Hanson). Außerdem war es von Vorteil, bei Gefahr nicht lange nachzudenken, abzuwägen oder zu kommunizieren, sondern möglichst schnell und automatisch zu reagieren mit den drei Möglichkeiten Kampf, Flucht oder Erstarren.

Die drei emotionalen Regulations- und Motivationssysteme (nach Paul Gilbert)

Diese Reaktionen werden durch einen Teil unseres vegetativen Nervensystems (unser unbewusstes Nervensystem) reguliert, den Sympathikus. Dieser Teil steuert entsprechende Hormone (z.B. Adrenalin, Noradrenalin, Cortison) die zu einer Beschleunigung des Herzschlags und der Atemfrequenz, einer Erhöhung des Muskeltonus sowie einer Herabsetzung des Schmerzempfindens und weiteren körperlichen Reaktionen führen, so dass wir bestmöglich kämpfen oder flüchten können. Alles, was damit nichts zu tun hat, wird runtergefahren (Verdauung, Heilung, Erholung, (Ver-)Bindung, Fürsorge, Kreativität). Gedanklich sind wir dann absolut fokussiert auf die Gefahr und MEIN Überleben. Wir sind im ICH-Modus. Auf der emotionalen Ebene gibt es zwei „Systeme“, die in diese Sympathikusaktivierung führen. Das eine kann man als Alarmsystem, das andere als Antriebssystem bezeichnen. Das Alarmsystem ist bedrohungs-fokussiert und auf den Selbstschutz gerichtet. Der Hauptmotivator ist Angst, aber auch Ärger, Wut und Befürchtungen aktivieren es. Das Ziel ist Sicherheit. Das Antriebssystem ist ressourcen-fokussiert, hier wollen wir etwas haben oder verfolgen ein Ziel. Es ist auf Belohnung, Zufriedenheit und Sättigung ausgerichtet. Ursprünglich war das die Sättigung mit Wasser, Nahrung und Fortpflanzung, heute wird es jedoch auch durch Leistung, Streben nach Besitz, Konsum, Erfolg, Wachstum, Weiterentwicklung aber auch Neugier und Erforschen aktiviert.

Beide Systeme haben ihre absolute Berechtigung und sind nach wie vor notwendig für ein gelingendes Leben. Allerdings sollte ihre Aktivierung immer nur ein kurzer Ausflug sein, kein Dauerzustand. Im Grundzustand sollten wir uns im Ruhe- und Erholungsmodus befinden, den man auch als Fürsorgesystem bezeichnen kann. Es ermöglicht Erholung, Freundlichkeit, (Selbst-) Fürsorge und hat die Verbindung als Motivator. Hierzu gehört die Aktivierung des anderen Teils unseres Nervensystems, dem Parasympathikus. Er verlangsamt Atmung und Herzschlag, entspannt die Muskulatur und fördert Verdauung und Aufbau, so dass wir wieder auftanken. In diesem System sind wir WIR-zentriert und ganz auf Bindung ausgerichtet.

Wenn Risiken und Gefahren gebannt sind, wir im Trockenen und Warmen sitzen, genügend Nahrung und andere Vorräte haben, können wir uns entspannen und Verbundenheit mit uns selbst und der Welt erleben.

Die Coronazeit fordert die drei Systeme

Nun werden diese drei Systeme alle durch die Coronakrise in spezieller Weise herausgefordert. Der Wegfall der gewohnten Strukturen und Routinen, die Bedrohung durch Krankheit und Tod, die Bedrohung der finanziellen Existenz, die Sorge um die Zukunft unserer Kinder und die sorgenvolle Frage „was das alles mit ihnen macht“ führen zu Unsicherheit und Angst und triggern das Alarmsystem. Zusätzlich lässt die massive Überforderung durch die unrealistischen Erwartungen, was Eltern über Wochen gleichzeitig leisten sollen (Homeoffice, Homeschooling, Kinderbetreuung) das Antriebssystem heiß laufen und lässt uns unermüdlich im Hamsterrad des „Es-ist-nie-genug“-Gefühls strampeln. Selbst das Fürsorgesystem aktiviert im Moment den Stressmodus. Denn es nimmt einen Mangel an Verbindung wahr. Nicht nur dadurch, dass wir unsere Freunde nicht mehr treffen oder unsere Familien und Nachbarn nicht mehr um Unterstützung bitten, sondern auch durch den Wegfall der Rituale zur Pflege der Gemeinschaft (z.B. Feste, Vereinsaktivitäten, Kultur- und Sportveranstaltungen) und das alltägliche Erleben von Distanz und Verunsicherung im Umgang miteinander in der Öffentlichkeit. Außerdem kann die Belastung dazu führen, dass es in der Partnerschaft zu Krisen kommt.  Aber die Verbundenheit, das „Dazugehören“ war für unsere Vorfahren existenziell, überlebenswichtig. Bei sozialer Isolation, der Verbannung aus der Herde, drohte der Tod. Deswegen hat die soziale Distanzierung das Potenzial, unser Alarmsystem so sehr zu triggern.

Zu dieser „Bedrohung“ von außen kommt noch die Bedrohung von innen dazu. Dieser Dauerstressmodus fördert ja nicht gerade Verhalten, welches im Zusammenhang mit menschlichen Beziehungen, Familienleben und gerade gegenüber unseren Kindern förderlich ist. Oft verhalten wir uns dann ganz anders, als wir es uns wünschen – oder sogar auf eine Art und Weise, die nicht unseren eigenen Werten entspricht. So sind wir weniger empathisch, ungeduldig, leichter reizbar, aggressiver, weniger aufmerksam, weniger fähig zum spielerischen Miteinander. Fangen wir jetzt an, uns selbst dafür zu kritisieren oder sogar zu verurteilen, entsteht innere Bedrohung. Wir reagieren auf psychische und auch selbstgemachte psychische Bedrohung mit dem gleichen Stress wie auf äußere, physische Bedrohung: Kampf (gegen uns selbst in Form von Selbstverurteilung), Flucht (in die innere Isolation „Ich bin die/der Einzige, der/dem so etwas passiert, die/der so versagt.“) und Erstarren (in der Überidentifikation mit dem Leid „Ich sehe nur noch schwarz.“)

Was uns jetzt hilft ist Selbstmitgefühl

Erstmal tief durchatmen ...  Dann anerkennen: Das ist ganz schön hart! Da stecke ich gerade in einer wirklich schwierigen Situation, die mir all meine Kraft abverlangt. Das ist anstrengend und leidvoll. Es kann entlasten, sich klar zu machen, dass wir entgegen unserem Gefühl damit nicht allein sind! Wahrscheinlich sind wir in diesem Schmerz sogar mit Eltern weltweit so verbunden, wie wir es nie zuvor waren. Vielen anderen Müttern und Vätern geht es gerade ähnlich. Und es kann entschulden, zu wissen, dass wir keine schlechten Eltern sind, sondern völlig normale und (aus einer evolutionären Perspektive gesehen) sogar sehr gut funktionierende Menschen sind. Abschließend sollten wir uns fragen: Was tut mir jetzt gut? Wie kann ich freundlich mit mir sein und mir geben, was ich jetzt wirklich brauche? Und das nach Möglichkeit auch tun.

Dies sind die drei Schritte des Selbstmitgefühls (nach Germer und Neff):

  1. Achtsam wahrnehmen und anerkennen was wirklich ist, auch wenn es schmerzhaft ist.
  2. Die geteilte Menschlichkeit wahrnehmen, den Blick weiten, „ich bin nicht die/der einzige der/dem es so geht und es ist menschlich unvollkommen zu sein“.
  3. Der Schritt der Selbstfreundlichkeit mit der Frage „Was brauche ich jetzt?“.

Diese drei Schritte können auch im Alltag immer wieder durchgeführt werden, als eine kleine „Selbstmitgefühlspause“.

Die drei Systeme in Balance

Um die drei emotionalen Regulationssysteme in eine gesunde Balance zu bringen, kann es hilfreich sein, sich für jedes System Zeit zu nehmen, um es genau anzuschauen und zu pflegen (vergleiche „Wir Eltern sind auch nur Menschen“, Jörg Mangold). Dabei kannst du in drei Schritten vorgehen.

  1. Beobachten was ist
  2. Das Negative vermindern
  3. Das Positive vermehren

Führe zunächst eine Bestandsaufnahme durch und nimm dir für jedes System eine Woche Zeit. Notiere deine Gedanken und Beobachtungen in einem Tagebuch. Später kannst du jedem System täglich etwas Zeit widmen.

Für das Alarmsystem können dir folgende Fragen helfen:

  • Wie aktiviert ist das Alarmsystem bei mir? Wann bin ich getrieben von Angst und Befürchtungen? Welche Gedanken, Gefühle und Körperwahrnehmungen hängen damit zusammen? Wie gefährdet bin ich wirklich? Wie gefährdet ist meine Familie, meine Kinder?
  • Höre ich falschen Alarm? Was ist wirklich los? Bin ich am überreagieren? Gibt es eine Verzerrung meiner Wahrnehmung? Bin ich übertrieben darauf ausgerichtet, was alles schiefgehen könnte?
  • Welche vergangenen Krisen und brenzlige Situationen habe ich schon gemeistert und was hat mir dabei geholfen? Was hilft mir, Sicherheit zu erleben? Was hilft mir, ruhig und besonnen zu bleiben und überlegt zu handeln, wenn Dinge mich ängstlich oder hilflos machen? Welche inneren Stärken habe ich bereits, die mir dabei helfen? Welche möchte ich ausbauen?

Für das Antriebssystem helfen folgende Fragen:

  • Wie aktiviert ist das Antriebssystem bei mir? Welche Gedanken, Gefühle und Körperwahrnehmungen hängen damit zusammen? Ab welchem Punkt strebe ich? Nach was strebe ich? Was muss unbedingt sein? Was muss ich unbedingt haben? Welche Dinge umgeben mich? Was habe ich an Bequemlichkeiten, Ausstattung, Versorgung? Bin ich existenziell von einem Mangel bedroht? Was fehlt wirklich um Wohlbefinden und Glück zu erreichen?
  • Was ist mein wirklicher Antrieb hinter dem „Haben-wollen“ oder dem „Dorthin-wollen“? Brauche ich das wirklich? Was ist der Preis dafür? Wie viel Zeit, Energie, Verbundenheit wird es mich kosten? Ist es das Wert?
  • Nimm Dir am besten täglich ein paar Augenblicke Zeit, dich zu fragen, was heute schön war. Wofür bin ich dankbar? Eine gute Möglichkeit dafür ist die „10-Finger-Dankbarkeitsübung“, bei der du täglich 10 Dinge aufzählst, für die du dankbar bist. Oder ein Dankbarkeitstagebuch.

Für das System der Verbundenheit helfen folgende Fragen:

  • Wie oft bin ich im Verbundenheitssystem? Welche Gedanken, Gefühle und Körperwahrnehmungen hängen damit zusammen? Ist dies mein grundsätzliches zu Hause? Wann fühle ich mich verbunden? Wann fühle ich mich allein? Mit wem bin ich in Kontakt? Welche Freundschaftsbeziehungen habe ich, die ich gerade nicht jeden Tag sehe, die aber trotzdem mein Herz erwärmen? Will ich diese Kontakte mit den aktuell zur Verfügung stehenden Mitteln wieder aktivieren, stärken? Wie pflege ich meine Partnerschaft? Wie pflege ich meine Verbundenheit mit mir selbst? Wie pflege ich Verbundenheit zur Natur? Zu meinem Haustier? Nehme ich alle Bindungen, die ich in meinem Leben aufgebaut habe wahr und genieße sie?
  • Gibt es wirklich einen dramatischen Mangel an Verbindung in meinem Leben? Habe ich in Beziehungen, durch die ich mich aktuell nicht gestärkt, sondern ausgelaugt fühle, auch die positiven Qualitäten im Blick? Habe ich mich selbst ausreichend im Blick, mein Recht und meine Pflicht auf Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl?
  • Was kann ich tun, um mich verbunden zu fühlen? Welche Ressourcen habe ich, um Verbundenheit herzustellen? In welchem Maß will ich eine bestimmte Verbindung noch weiter ausbauen? Welche alten Herzensdinge will ich wiederbeleben? Neben unseren engen Beziehungen können folgende Dinge helfen, Verbundenheit zu erleben: Gruppenerfahrungen, ggf. online, Naturerlebnisse wie z.B. Gärtnern, Urban-Gardening, Pflege von Ritualen zum Jahresrhythmus, Tiere.

Um die Systeme in Balance zu halten, ist es wirksam sich immer wieder präsent zu machen was an Sicherheit, Ressourcen und Verbindung alles bereits vorhanden ist und das im Gefühl anzureichern, das heißt, alle Sinneserfahrungen die damit zusammenhängen wahrzunehmen und tief in sich aufzunehmen. Dabei geht es nicht um Schönfärberei („No sugar on Shit“ wie der Neuropsychologe Rick Hanson sagt), sondern darum, einen heilsamen Ausgleich zu schaffen für unsere evolutionär bedingte Neigung, vor allem des Negative wahrzunehmen.

Was passiert nach der Bestandsaufnahme?

Solltest du bei der Bestandsaufnahme feststellen, dass du tatsächlich existenziell bedroht bist oder an einer Stelle ein bedrohlicher Mangel besteht, soll das natürlich nicht wegdiskutiert werden. Du kannst dir dafür viel Mitgefühl geben und dann überlegen, welche weiteren Schritte notwendig sind und was du dafür brauchst, um diese gut zu gehen, eventuell mit Hilfe. Auch wenn viel Schmerz da ist, ist es erfahrungsgemäß schwierig sich direkt mit dem Positiven zu verbinden. Der Schmerz und die Traurigkeit darüber brauchen zunächst ihren Raum, und es braucht viel Mitgefühl durch uns selbst oder andere, um die Basis zu schaffen, sich wieder mit dem Positiven verbinden zu können. Solltest du bei der Bestandsaufnahme auf Schmerz stoßen, gehe zurück zu den drei Schritten des Selbstmitgefühls.

Insgesamt bieten uns diese Methoden eine Möglichkeit, uns selbst gegenüber eine entspannte, freundliche, mitfühlende Haltung einzunehmen und dadurch unser Stresserleben zu verändern. Dadurch wird die Basis geschaffen, alternative und positive Verhaltensmöglichkeiten im Alltag zu entwickeln, wieder mehr in Verbindung mit uns und unseren Lieben zu sein und das ganze System Familie zu entspannen.

Info:

Dr. Julia Fellmer ist Fachärztin für Allgemeinmedizin, Ärztin für anthroposophisch erweiterte Medizin, Schulärztin, Trainerin für Mindful Compassionate Parenting (MPC), getrennterziehende Mutter eines 4-Jährigen Kindes.

Wer all diese Methoden vertieft erfahren und durch weitere hilfreiche Übungen für Eltern ergänzen möchte, dem empfehle ich das Programm „Mindful Compassionate Parenting“. Entweder in Form des Buches von Jörg Mangold („Wir Eltern sind auch nur Menschen“) oder als Kurs in einer Gruppe (aktuell online). In Köln biete ich entsprechende Kurse an, mehr Infos dazu auf achtsamelternsein.de. Die nächsten Online-MCP-Kurse starten am 16.3.21 und 18.3.21.

Ein Trainerverzeichnis findet ihr auf mindfulcompassionateparenting.org

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