Gesellschaft
„Corona hat das Leben auf den Kopf gestellt “
Claudia Kruhl / Leserin · 11.03.2021
zurück zur ÜbersichtZusammenhalt in Corona-Zeiten
Der Kalender zeigt Februar 2021 an – das „neue Jahr“ ist schon wieder fast 2 Monate alt. Seit gut 2,5 Monaten befinden wir uns wieder im Homeschooling. Was im März 2020 als absolutes, bisher undenkbares Novum begann, nämlich dass Unternehmen auf Anordnung nicht mehr öffnen dürfen und Kinder zu Hause beschult werden, fand im Dezember 2020 als zunächst angekündigter „Lockdown light“ seine Fortsetzung. Das hat für uns als Familie den Ablauf ziemlich auf den Kopf gestellt und einige „Umorganisationen“ erfordert. Da wir ja bereits im Frühjahr 2020 die Chance hatten zu üben, wie Schule zu Hause funktioniert – damals noch mit weitaus weniger professioneller Ausstattung und Möglichkeiten der Datenübermittlung von Seiten der Schule – sind wir jetzt quasi „alte Hasen“.
Und wie sieht ein Tag ganz konkret bei Familie Kruhl aktuell aus?
Nun, da wir es für sehr wichtig halten, den Tagen nach wie vor eine Struktur zu geben, klingelt der Wecker auch im Lockdown um 6:30 Uhr. Aufstehen, Frühstück, Absprachen. „Wer hat wann welche Videokonferenz?“, „Wie lange dauert diese?“, „Wann sind Pausen?“, „Wann ist ein gemeinsames Mittagessen sinnvoll?“ Dann startet der Tag um 8:00 Uhr mit den ersten Konferenzen für die Kinder – meist ist es ziemlich still in deren drei Zimmern – bis auf wenige Ausnahmen, wenn eine Wortmeldung gefragt ist. Sind keine Videokonferenzen der Lehrer angesetzt, organisieren sich die beiden Großen mit Mitschülern in eigenen Konferenzen via Zoom. Man arbeitet am eigenen Schreibtisch die Aufgaben ab, sieht sich aber und hat die Möglichkeit zum Austausch. Der jüngste Sohn nutzt andere Medien zum Austausch mit den Mitschülern aber auch er schafft es, trotz räumlicher Distanz zusammen mit anderen zu lernen: eine gute Möglichkeit, die eingeschränkten Sozialkontakte doch irgendwie zu erhalten.
Auch die Eltern sind im Home-Office ...
Wir Eltern sind zwar auch im „Home-Office“, aber das ist zumindest am Vormittag nichts Neues. Auch für uns stehen Büroarbeiten, Konferenzen und Telefonate auf der Tagesordnung. Lediglich die Abende sind deutlich anders als vor Corona. Bedingt durch Arbeitszeiten der Eltern und die Hobbies der Kinder finden gemeinsame Abendessen zu fünft im normalen Alltag eher selten statt. Das ist momentan anderes: Niemand darf abends arbeiten, niemand darf seinem Hobby nachgehen – alle Familienmitglieder versammeln sich abends um den Esstisch und genießen es meist sogar, in Ruhe die Zeit zum Austausch und für Gespräche zu haben.
Natürlich sind wir eine ganz normale Familie – und mit drei Pubertieren ist es mit der Ruhe nicht immer so weit her. Manchmal wechselt die Stimmung am Tisch so schnell wie die Wetterlage im Gebirge: von eitel Sonnenschein zu heftiger Entladung pubertärer Gehirngewitter. Aber auch solche Erfahrungen lassen Kinder und Eltern reifen, das glaube ich ganz bestimmt. Also nicht verzweifeln und „das Gute“ in der Krise suchen. Mir persönlich hilft oft eine Sporteinheit aus dem vielfältigen Online-Angebot, ein Spaziergang an der frischen Luft oder der Rückzug mit einem guten Buch.
... und gleichzeitig Aushilfslehrkräfte
Manchmal schallen Hilferufe aus dem ein oder anderen Zimmer: „Mama, was ist denn mit Gewinner und Verlierer der Globalisierung in Vietnam gemeint?“ „Kannst du mir Religion scannen und hochladen – ich musste Sätze zum heiligen Geist formulieren!“ „Ich soll einen Zaubertrick beschreiben und nachmachen, hast du mal einen Geldschein und zwei Büroklammern?“ Einige Aufgaben werden zum „Familienerlebnis am Sonntagnachmittag“ – ob das so von den aufgabenstellenden Lehrern gewollt ist, keine Ahnung. Hier ein Beispiel:
Aufgabe Kunst, Klasse 9: „Baue ein Fahrzeug aus normalem Papier – achte darauf, dass es möglichst detailgetreu ist und mindestens eine Aktion ausführbar ist. Nach Fertigstellung setzt du das Konstrukt bitte in eine entsprechende Umgebung und machst Fotos.“
Soweit, so gut ... die Tochter ist als eher sportlich denn kunstbegabte Schülerin am Rande der Verzweiflung, die Mutter als noch weniger begabte Künstlerin, aber in diesem Fall Ersatzlehrerin für das Fach Kunst, zerlegt die Aufgabe zunächst einmal in die einzelnen Bestandteile, vergleicht mit der Alternativaufgabe („Zeichne unmögliche Räume“) und kommt zu dem Schluss: Der Lehrer möchte wohl die Fähigkeiten des räumlichen Vorstellungsvermögens testen und sehen, dass man geometrische Figuren als Raster aufzeichnen kann und in der Lage ist, diese ordentlich zusammen zu basteln. Aus diesen verschiedenen Figuren entsteht dann ein Gesamtkonstrukt in Form eines Fahrzeuges. Wie das mit der Funktionalität umgesetzt werden soll, ist zu diesem Zeitpunkt noch offen.
So gestalten wir also den Sonntagnachmittag mit einem Haufen weißen Papier, Lineal, Kleber, Schere, Wäscheklammern (zum Fixieren), einer Skizze als Bauplan, nochmal Kleber und viel viel viel Geduld, die zeitweise während der Pandemie mindestens genauso Mangelware ist wie im Frühjahr Klopapier, Hefe und Nudeln. Nach sechs Stunden Bastelarbeit, begleitet vom gleichmäßigen Titschen eines Tischtennisballes – der jüngste Sohn setzte nämlich die Sportaufgabe seines Lehrers „Übe für das Tischtennissportabzeichen“ um und versuchte möglichst lange, den Ball immer wieder mit dem Schläger in die Luft zu heben – war es geschafft: Unser Kran war fertig und hatte dank der Idee des Vaters sogar zwei Funktionen erhalten.
Das Zimmer der Tochter ist nun um einen Staubfänger reicher: ein drehbarer Kran mit kurbelbarem Seilzug – der Traum eines jeden 15-jährigen Mädchens. Die Fotos entstanden dann im Vorgarten bei Schneefall und -1 Grad in den Kiessteinen. Sollte jemand tatsächlich nach dieser Beschreibung Lust am Nachbau bekommen haben, wir stellen gerne Skizzen zur Verfügung. Ich kann nur sagen – ein ganzer Nachmittag ist durch solche Aufgaben gerettet.
Puh – aufatmen, schließlich ist Sonntag und die Woche fängt morgen erst an. Alle Aufgaben abgearbeitet und zur Bewertung hochgeladen. Plötzlich ruft es aus dem nächsten Kinderzimmer: „Mama, mein Kunstlehrer hat eine neue Aufgabe eingestellt – wir sollen einen Comic zeichnen.“ Na wunderbar, hört das denn nie auf? Die Planung unseres Abendprogramms wird uns ebenfalls zum Teil durch die Aufgabenstellung der Lehrer abgenommen: „Sieh dir den Film „Die Kinder der Villa Emma“ bis zur nächsten Konferenz an.“ „Verfolge die Dokumentation des ZDF „Wie Hitler an die Macht kam“. Prima, hiermit sind sogar mehrere Sonntage auf einen Schlag unterhaltungstechnisch gerettet. Wer also noch Filmtipps braucht, wir hätten da welche auf Lager.
Aber ist denn nun wirklich alles nur schlechter und schwieriger geworden?
Ich sage entschieden „NEIN“. Wir haben viel mehr Familienzeit. Klar sind wir Eltern an manchen Stellen anders gefordert als im „normalen Alltag“, aber ist das schlimm? Ich erinnere mich daran, wie oft ich über die Schule, die Lehrer etc. geschimpft habe, was ich mir alles anders bezüglich der an den Tag gelegten Ordnung, Sauberkeit und Ausführung der Aufgaben gewünscht hätte. Jetzt habe ich die Chance, es als „Homeschooling-Ersatzlehrerin“ besser zu machen.
Außerdem sehe ich die vielen Lerneffekte für das weitere Leben. Unter normalen Umständen hätten unsere Kinder den Umgang mit den modernen Medien, Konferenzräumen, Lernplattformen, Word, Powerpoint, Exel, mit Scannern, Druckern und Dokumentbearbeitungs-Tools sicher nicht in dem Maße und dem Tempo gelernt.
Und was lernen sie außerhalb der Schulaufgaben?
Ganz freiwillig kommen Fragen wie: „Kann ich dir beim Kochen helfen?“ oder „Darf ich einen Kuchen backen?“ Schnitzel panieren, Geschnetzeltes zubereiten, Gemüse für einen Auflauf putzen, den Sonntagskuchen backen, alles kein Problem mehr. Leider kommt dazu auch die Erkenntnis, dass wir keine selbstreinigende Küche besitzen – und man nach aller Tatkraft auch noch den Lappen schwingen muss, um den Urzustand wieder herzustellen. Sind wir Eltern dann doch einmal zu einer „Besprechung der Lage“ in unserer Tanzschule, funktioniert das eigenstände Herstellen eines Abendessens, das anschließende Aufräumen und Einräumen der Spülmaschine mittlerweile auch ganz gut.
Die Erkenntnis „die Wäsche kommt nicht automatisch wieder sauber in den Schrank“, „der Kühlschrank ist nicht von alleine voll“ und überhaupt: „Was machen die Eltern den ganzen Vormittag, wenn wir normalerweise nicht da sind?“ sind weitere wertvolle Schlüsse, die die Kinder aus der Situation fast von ganz alleine gezogen haben. Das gegenseitige Verständnis für die jeweiligen Aufgaben und Arbeiten des anderen hat deutlich zugenommen.
Hat es zunächst noch einen Reiz gehabt, das Haus den ganzen Tag nicht verlassen zu müssen, so merken sogar Pubertiere schnell, dass frische Luft mal ganz gut tut. So brauchten unsere Kinder nicht erst den Ansporn des „Sponsorenlaufes“ der Schule, um regelmäßige Spaziergänge oder Joggingeinheiten in der Natur einzulegen.
Sogar ein Spaziergang mit der Fotokamera in der Natur kann für einen 14-jährigen durchaus seinen Reiz haben. Irgendwann überkommt es dann auch unsere durchaus sportlichen Kinder. Fanden sie es anfangs noch eine komische Vorstellung, vor dem heimischen Fernseher ihre HipHop-Choreos zu üben oder einer Live-Fitness-Einheit zu folgen, sah ich irgendwann die Tochter im Sportdress durchs Haus laufen. Auf die Frage, ob der Sommer ausgebrochen sei, teilte sie mir kurz und knapp mit, dass gleich Sport mit Denice, Kevin und Lisa sei und sie jetzt bitte nicht gestört werden wolle. Schweißnass, aber emotional sehr ausgeglichen, sah man sie nach einer Stunde wieder. Sport wirkt Wunder gegen schlechte Laune.
Fürs Leben lernen
Bemerkenswert finde ich, wie sehr den Kindern offenbar ihre Aufgabe im Bereich der Assistenz im Kindertanzkurs und somit auch die Kinder fehlen. Zu einigen Kindern nehmen sie fast regelmäßig Kontakt via Videotelefonie auf und ermuntern diese ebenfalls, den Kindertanz-Live-Streams vor dem Fernseher zu folgen und ordentlich mitzutanzen. Das verschafft auch deren Eltern für die Zeit des Streams ein wenig „Atemholpause“. Und diese Pausen sind nicht egoistisch, sondern notwendig. Kinder lernen in dieser Zeit fürs Leben – ganz ohne Lehrplan, Aufgaben und Notendruck. Wir Eltern lernen vor allem eins: Gelassenheit!
Wie lautet also das Fazit?
Corona hat das Leben auf den Kopf gestellt. Vieles hat sich verändert. Vieles muss sich finden. Manchmal muss man auch einen Umweg gehen, um danach die richtige Richtung einzuschlagen und „DEN WEG“ zu finden. Möglicherweise zeigt sich jetzt auch: „Erziehung in der Zeit schafft in der Not Gelassenheit.“ Nämlich dann, wenn bereits vorher gefestigte Abläufe und Regeln nicht in einer solchen Ausnahmesituation erst noch erlernt und in das Familienleben integriert werden müssen. So schlimm das Virus für Erkrankte ist, so bieten die uns vorgegebenen Einschränkungen allerlei Möglichkeiten für die Überprüfung, Veränderung und Anpassung des eigenen Lebensstils und vielleicht eine erstrebenswerte „Neuordnung der Aufgaben“ innerhalb der eigenen Familie – auch für die Zeit „nach Corona“.
In diesem Sinne, bleibt gelassen, seht das Gute in all den Einschränkungen und findet euren Ausgleich!
eure Claudia Kruhl